Wahrscheinlichkeit des Endzeterns gering

Ich dachte nie, dass ich dieser Mensch sein würde. Nie. [Theatralische Pause.] Gestern war ich es.

Zum Hintergrund des jetzt somewhat dramatischen Einstiegssatzes: obgleich wissend, dass ich zu der Sorte Personen gehöre, die ob ihres Biorhythmus eher dazu neigen, mit der gesellschaftlich überwiegend verbreiteten (oder erzwungenen) und wirtschaftlich etablierten Verteilung von Arbeits- und Geschäftszeiten zu clashen, gebe ich mir doch immer wieder Mühe, mein Schlaf-Wach-Muster zu adaptieren und entsprechend wenigstens nur noch geistig halb-komatös, aber physisch komplett anwesend zu sein, wenn es von mir erwartet wird. In der idealen Welt würden meine Tage ergo gegen 10 oder 11 Uhr anfangen und dafür auch erst gegen 2 oder 3 Uhr in der Nacht enden. Aber man wächst bekanntlich mit seinen Ansprüchen. Oder mit den Anforderungen an einen. Von diesem vermutlich mein restliches Leben beeinflussendes Schicksal völlig frustriert und entnervt mal wieder, stolpere ich an einem Donnerstag Morgen vor 2 Wochen mit einem Grand Crème 4 Minuten nach Vorlesungsbeginn in den Raum D'Alsace und muss mich einfach folgendermaßen in einem Facebook-Post mitteilen: "People who have time for a proper breakfast during week really have their life together. I don't even manage to have coffee before class. I mean, I can have coffee but then I won't be on time. It's EITHER coffee OR being punctual. Which is a pity, literally."

Das Gute an Donnerstag Morgenden (und Dienstag Morgenden übrigens auch) ist die Tatsache, dass sie mit einem Kurs von oder vielmehr aufgrund seines komödiantischen und bezaubernden Präsenzcharakters mit Luca Visconti selbst beginnen. Als ich davon erzählt habe, wie verschiedene Nationalitäten mit der Thematik der Benotung umgehen, da zitierte ich ihn, den schwulen Mitte Vierzigjährigen mit Milaneser Englisch. Was Luca zusätzlich zu seiner unbestreitbar beeindruckenden Expertise in den Bereichen Branding und Consumption of Minority Groups (migrants, GLBTs, elderly people) mitbringt und was ihn für mich zu einem wirklich sympathischen Menschen macht, ist die gleiche Abneigung gegen Zeitfenster vor 10 Uhr, in denen man wach, angezogen und mindestens einen Espresso intus an einem Ort ungleich zuhause sein soll. Jeder andere Italiener, der mit einem vergleichbaren Akzent italienisch spricht (selbst die von mir in noch rationalen Maßen angehimmelte, erfolgreichste Bloggerin der Welt, Chiara Ferragni - Leute, die sollte man schon mal kennen mittlerweile!) löst bei mir härteste Aggressionen aus, wenn er oder sie entsprechend loslegt, an absolut jedes englische Wort ein -eh anhängt und in sizilianischem Singsang versucht, Sinn zu transportieren. Da ist bei mir Schluss. Normalerweise. Bei ihm nicht. Ihm hänge ich an den Lippen. Metaphorisch gesprochen. Für den Fall, der geneigte Leser interessierte sich tatsächlich für einen oder beide Inhalte der Kurse, die ich bei ihm belege und die den obigen Forschungsschwerpunkten seiner Arbeit entsprechen, möge man es mich wissen lassen, ich diene gerne mit Skripten, Readings oder the like. Für den wahrscheinlicheren Fall aber, dass wir uns weiterhin alle vor allem für die lustigen, entertaining Schwanke aus meinem Leben begeistern (mich eingeschlossen), möchte ich wiedergeben, wie Luca von seinem Weg zur Uni berichtet. Mehr als einmal. Hier sind seine Best of's inklusive französischer Ausrufe wie "oh là là" oder "tant pis".

"I see many tired faces today. So to give you an idea, about how my morning went: after I had a water damage in my apartment I just grabbed whatever I reached for the first in my closet. So this is what I came up with.  A little bit of suit, a little bit of sneaker, a little bit of whatever, and this shirt which hang pretty much in front of my wardrobe, which does, however, have a terrible color. Well.. tant pis! Doesn't matter. So I look somewhat like very stylish or just like a tramp. I can tell you, I feel like the latter one." Er sah natürlich mehr als annehmlich aus, aber so sind sie die Schwulen: wo ich da sitze mit Hoodie, Lederjacke, mittlerweile nicht mehr weißen Supergas und meiner mintgrünen Wollmütze mit Riesenbommel noch auf, an mir herunter schaue und denke, joar läuft, da macht er sich Gedanken zur Hemdfarbe. Tant pis!

"So, today, you seem to be still half asleep. To make the entry into theory a bit easier, I share with you what I've seen today on my way to school. So there was this dad with his kid, taking him to kindergarden or school, I'm not sure. However, the dad was trailing his son behind him and you could not tell who of the both was more tired actually. The son had almost both eyes still closed, the dad nearly feel asleep while walking. So this was kind of funny to me. But this was only on my way to the Métro where it even gets more ridiculous. So you see those people being half dressed, and even wearing this present half of their clothes inside out. Others trying to hectically put some makeup into their face, whereas again others trying to have breakfast, but not the manageable breakfast like a croissant ou quelque chose comme ça. No, it's rather a granola or some cereal like thing which you can even under awake circumstances absolutely not get into your mouth. At all. So.. to me it seems as if some of you might be some kind of those types. Still sleeping in the Métro and not being more awake in class en fait."

Und jetzt macht mein erster Satz auch Sinn. Ich war einer der Menschen. Naja. Ich war tatsächlich komplett angezogen, geschminkt (das alles nach Verschlafen innerhalb von 7 Minuten!) und da ich eh nicht frühstücke, musste ich auch dieses Problem nicht bewerkstelligen. Nichts desto trotz musste ich noch die ein oder andere Korrektur anbringen, z.B. ein kleines Mini-Pflaster auf meine Nase kleben, da meine neue Marc Jacobs Brille (siehe H&M Mirrorselfie unten) an der einen Seite auf dem Nasenbein etwas drückt und mein Optiker das immer wieder richten muss. Und dann lehnte ich da mit der Stirn, Augen geschlossen, an der Haltestange in der Ligne 5, irgendwo zwischen Gare d'Austerlitz und Quai de la Rapée, wo die Métro für gewöhnlich jeden Tag 2x mit mir die Seine überquert und verband mich mit dem Moment. Völlig entspannt, weil mir eh klar war, dass ich mal wieder zu spät sein würde. Oder völlig fatalistisch, das sind ja zwei verschiedene Dinge.

Um aber doch noch das ein oder andere Wort zu dem Konzept Métro in Paris zu sagen, da ich es angekündigt hatte: ich begreife es nicht, oder vielmehr begreife ich die Menschen in Paris und ihren Umgang mit ihr nicht. Die, die einfach relativ gut angezogen noch um Geld betteln. Die, die glauben mit ihrer Musikperformance an Geige, Klarinette oder transportablem Radio zu entertainen, tatsächlich aber einfach nur erduldet werden. Ich habe auch ein Video davon mal aufgenommen, aber leider weiß ich noch nicht wie man hier Videos hochlädt, daher muss ein Foto unseres Klarinettenklampfers vorerst reichen. Dann alle Menschen, die nach kurzem Aufblicken in aller Seelenruhe weiter in ihre Bücher, Kindles, Puderspiegel oder Zeitungen starren, wenn gerade einfach grundlos mitgeteilt wird «Le trafic est ralenti sûr la ligne 5. Merci de bien vouloir patienter.» Und die Métro seit 10 Minuten steht. Da drehe ich ja durch. Auch wenn ich es nicht beeinflussen kann. Oder wenn die gleiche Durchsage am Gleis kommt aufgrund eines so die wörtliche Übersetzung "kranken Reisenden am Gare de l'Est". Da traue ich meinen Ohren nicht. Wenn am Ostbahnhof in München einem schlecht wird, halten sie trotzdem nicht die U5 an. Unfassbar. So unfassbar, dass ich unbemerkt ins Englisch wechsle, Umherstehende anspreche und ungläubig bis gereizt frage: "Has someone died or why is it not going on here?". 

Ich werde nicht auslernen, aber ich werde mich daran gewöhnen. Vielleicht. Vielleicht werde ich auch mal ausrasten, aber gemessen an meinem aktuellen Gemütszustand, der sich ziemlich ankommend und ruhig und glücklich (ausnahmsweise mal mit nur wenig Einschränkungen!) anfühlt, ist die Wahrscheinlichkeit des Endzeterns momentan eher geringer als höher. Ich hoffe, Euch geht es allen gut.

Bisous, Nina.

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