Es gibt Dinge, die checkt man nicht. Grundsätzlich gar nicht. Oder man denkt, man hat's und dann merkt man "nee, doch noch nicht". In ersteres fallen bei mir z.B. nahezu alle über die Basics hinausgehenden Themen in Corporate Finance. Selbst nach mehrjährigem Durchkauen in mehreren mehrmonatigen Kursen in Bachelor und Master unterschiedlicher Schwierigkeitsstufen und Intensitätsgrade, besuchter Tutorien und Lerngruppen (also effort, den ich für nie einen meiner anderen Kurse zu betreiben für notwendig befunden hätte, weil der Groschen einfach gefallen ist). Oder die randomness, mit der manche Menschen einen auf Social Media Kanälen befreunden oder sich auf Networking Plattformen mit einem connecten wollen. Das hat für mich auch oft wenig bis verschwindende Nachvollziehbarkeit oder Korrelation mit der Realität. Aber mei. Letztes Beispiel für meinem Hirn nicht beibringbare, fundamentale Uncheckbarkeiten: wie komme ich pünktlich? Man versucht es mir ungefähr seit der 1. Klasse einzutrichtern. Vergeblich. Trotz zwischenzeitlich fluktuierendenr Resultate und wabernder Definitionen meinerseits ("pünktlich ist nicht, wenn die Uhr die Uhrzeit des Beginns anzeigt, sondern vor dem Lehrer im Raum zu sein"). Mit 23 bin ich nun an dem Punkt, dass ich bei privaten Terminen immer 2-15 Minuten zu spät bin (in 1% der Fälle pünktlich, dann aber stolz wie Bolle), bei wirklich wichtigen Dingen (Klausuren, Vorstellungsgesprächen, Flugreisen) viiiiiel zu früh. Also so, dass man quasi auch getrost noch 2x zurück nach Hause und wieder hinfahren könnte.
In zweite Kategorie, die des "gefühlt verstanden Habens und dann feststellen, dass doch nicht" fällt z.B. so was wie meine mit ungefähr 4 oder 5 Jahren gemachte Erfahrung, dass ich die Uhr lesen konnte und dann nach ein paar Wochen Ziffernblatt interpretieren es wieder verlernt habe, nicht ohne den Verweis, es gäbe doch schließlich digitale Anzeigen. Das mal so als Exkurs der Sorte "peinlich-intime Kindheitsschmankerl im Hause Rink". Um den Schwenk zum Jetzt zu schaffen: Dinge, die ich in Frankreich oder an Franzosen nicht verstehe. Oder die von Kategorie 2 irgendwann endgültig in 1 sortiert wurden - der resignierenden Einfachheit halber. Es gibt hier einen Bürgersteig für Autos. Wozu? Um das Auto vor Radfahrern zu schützen oder was? Faktisch ist es eine Art Spur zwischen Fußgängerbürgersteig a (direkt an der Straße) und Fußgängersteig b (direkt an der Häuserwand), auf der mit querenden Vehikeln der Dimension "umgebaute Wellblechgarage mit Rasenmähermotor" oder auch des Fabrikats Renault Clio gerechnet werden muss, die ohne Licht oder Hupe plötzlich aus dem Nichts auftauchen, wenn man sich als piétonne gerade nichts ahnend im Gehen mit dem iPhone beschäftigt und sich eigentlich in Sicherheit wägt (oder heißt das "wähnt"? Egal). Der Zweck? Mir unerklärlich.
Genauso unerklärlich wie die Anstellgebaren des gemeinen Franzosen an sich. Natürlich verwende ich "gemein" in der zoologisch, botanischen Semantik von ohne besondere Merkmale (vgl. "die gemeine Stubenfliege") nicht in der Wortbedeutung niederträchtig, hinterhältig. Wo kämen wir da hin, wenn ich hier Ressentiments schürte oder Stereotype kultivierte. Mindestens alle zwei Tage in der Mensa widerfährt es mir und es ist mir auch schon im Starbucks in einem unschönen Aneinanderrasseln mit einer telefonierenden und wild gestikulierenden Französin passiert: der Franzose (m/w) stellt sich entweder seitlich an eine bestehende Schlange an (Fall a) oder er geht einfach dermaßen impertinent an allen Wartenden vorbei, dass aktiv anstellen die Verharmlosung des Jahrtausends und sich unverschämt vordrängeln immer noch ein Euphemismus vor dem Herrn ist (Fall b). Der Anknüpfungspunkt ist hier die Unschuld, die der Franzose (m/w) für sich proklamiert. Im Folgenden die Gedanken der Partizipanten, beginnend mit dem einreihungsunwillligen Franzosen (m/w) und gefolgt von der gedachten Reaktion meinerseits.
Fall a
"Ich stelle mich mal seitlich neben Sie, das passt ja dann. Dabei schaue ich einfach unschuldig, irgendwo zwischen Dackelblick, Rehaugen und schwer konzentriert, um das auf der 2 Meter entfernten Tafel angeschriebene lesen zu können. Dabei versuche ich den stechenden Blick restlicher Anwesender zu ignorieren." - "Im Endeffekt werde ich vor Ihnen bestellen, Sie werden das ohne Protest hinnehmen und was die 30 Menschen hinter mir für unterdrückte Aggressionen just in diesem Moment gegen Sie pflegen, kann ich Ihnen nur geschätzt umreißen."
Fall b
"Ach, das ist eine Schlange hier? Das wusste ich nicht und sind wir mal ehrlich, war auch so nicht erkennbar. Ich dachte, die Menschenmenge hat sich aus reinem Spaß an der Freude in einem unbeweglichen, perlenartig aufgereihten Flashmob vor einem zu erreichenden Ziel versammelt. Da ich also der einzige bin, der tatsächlich etwas bestellen möchte, kann ich das ja getrost tun." - "Knackt's bei Ihnen eigentlich? Was glauben Sie denn, was wir hier machen? Auf welchem Chromosom ist bei Ihnen eigentlich diese unfassbare Arroganz angelegt, sich einzubilden, Sie seien Dreh- und Angelpunkt beziehungsweise alleine auf dieser Welt?"
Sagt man natürlich nicht, ist man ja erzogen und so. Stattdessen kann oder will ich meine Mimik gar nicht kontrollieren und setze so bewusst das Gesicht der hybriden Kombination von Augen zusammenkneifen, Stirnrunzeln und geöffnetem Mund zur direkten Entgegnung oder Anblaffung auf. Hilft meistens schon ganz gut, Erfolg zu messen daran, dass der Franzose (m/w) kehrtmacht, vorgibt nur mal kurz vorne was geguckt haben zu wollen und sich artig ans Ende der Schlange stellt. Oder zumindest hinter mich, was nicht meinem absoluten, aber zumindest meinem relativ zu mir empfundenen Gerechtigkeitsempfinden entspricht und entsprechende Ruhe bereitet. Die innere Nina tobt nicht mehr.
Situation 3 von "waruuuummm?", Franzosen, die sich auf offener Straße einfach ein ganzes Baguette ins Gesicht stecken. Entschuldigung, ich finde dafür keinerlei verniedlichendes Vokabular. Vorweg sei bemerkt, dass man in Paris keine Menschen sieht, die im Gehen essen. Selbst der Erwerb bei McDonalds wird im Sitzen verzehrt, sieht man doch jemanden auf offener Straße bei der Nahrungsaufnahme, darf man sichergehen, dass es sich nicht um jemanden aus Paris (oder, ich verallgemeinere mal, überhaupt einen Franzosen) handelt. Möglicherweise einer der Gründe, warum es in Frankreich weniger adipöse Tendenzen gibt. Keine Ahnung, nur mein Eindruck, man widerspreche mir in Studien und Graphen. Auf jeden Fall sticht dieses unterm Arm getragene und in direkten Abbissen verzehrte Baguette aus der nicht synchron gehenden und essenden Restlichkeit der population parisienne heraus. Und mir als Deutscher, die es eh schon nicht so mit Essen hat, aber zumindest mit deutschem Backwarenerwerb, -charakteristika, -nationalstolz und -verzehrvarianten in Grundzügen vertraut ist, ist es nicht ergründlich. Nach deutschem Verständnis und meinen Kenntnissen kauft man jegliches Brot in Stangen- oder Laibform, um es zuhause (!) mit einem Brotmesser (!) in eine verzehrfähige Dimension zu zerlegen und im Anschluss mit einem Belag, Bestrich oder einer Ergänzung der Wahl zum Dippen, Tunken, vom Teller Aufnehmen zu verzehren. Dies geschieht tatsächlich mit den Fingern - die einzige Gemeinsamkeit, die es zu geben scheint. Selbstredend ist dem Deutschen auch der Verzehr von Backwaren im Gehen auf offener Straße bekannt, handelt es sich hierbei aber um fertig bestrichene, belegte, größenmäßig angemessene Enderzeugnisse, deren Zweck eben im sofortigen Kauen und Schlucken besteht. Das Fass mit dem Unvorhandensein von Körnerbrot (Vollkorn, Mehrkorn, Kürbiskern-, Sonnenblumenkern & Co) mache ich jetzt nicht auf. Exemplarisch wäre hier die dreiviertelstündige Suche von Anja und mir auf der Suche nach einer Mehrkornsemmel im 5e Arrondissement zu nennen, die Anja zu ihrer Kürbiscrèmesuppe hätte essen wollen, die wir aber nach Eingestehen der Unmöglichkeit des Unterfangens resigniert beendeten. Ich verstehe also auch das nicht und ich höre mich an, wie jemand der mit einer reptilienartig fremden Unfähigkeit des Begreifens vor den Aspekten Unterschied zu Frankreich, Kohlenhydrate und Koordination im Gehen ohne wogegen zu laufen steht. Never mind. Zumindest darf ich aber das erste Häkchen an mein Klischee von Jacques, François und Henri, die mit ihrem Rotwein, einem Camembert und dem obligatorischen Baguette bewaffnet, mit Streifenhemd, Moustache und Beret eine Charmeoffensive gegen mich gestartet hätten. Seid beruhigt, der Rest wird sich angesichts der in den letzten beiden Monaten gemachten Erfahrungen und erhaltenen Eindrücke nicht bewahrheiten.
Bisous, Nina.

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