Eine der Entscheidungen, die alle Menschen auf der Erde gleichermaßen, wenngleich auch zu unterschiedlichen Zeiten im Jahr treffen müssen oder es nicht müssen, aber trotzdem unweigerlich tun, ist die nach dem Verbringen des Silvesterabends oder Jahreswechsels. Man kann sich da nicht ausnehmen oder sagen "ich mach' da nich' mit!", selbst wenn man beschließt, es einfach zu ignorieren, ist das ein Entschluss. Die Nicht-Entscheidung wird paradoxerweise zur Entscheidung. Zugegeben, ethnische Randgruppen wie die Chinesen begehen diesen zwischen 21. Januar und 21. Februar, Vorder- und Zentralasien packen's zum Frühlingsanfang am 21. März dann auch, Thailand und der Hinduismus in seiner Gesamtheit klinken sich Mitte April ein. Man merkt, der Asiate mag nicht Mainstream. Der Islam legt sich da gar nicht fest, die Altes-Jahr-Neues-Jahr-Schwelle wandert durch den Kalender, das Judentum präferiert September oder Anfang Oktober. Vor 300 Jahren war es in Russland der 1. September, Luther wollte vor 500 Jahren den ganzen Trubel vorziehen auf den 25. Dezember. Weihnachten und Neujahr im Doppelpack, kauf' zwei, zahl' eins. Quasi. Zurück aber zu mir, zähle ich mich doch dem grundsätzlich kontinentaleuropäischen, westlich und christlich orientierten Kultur-, Werte- und Gesinnungskreis zugehörig und lebe momentan in einem Land, das es halt richtig macht. 31. Dezember auf 1. Januar. Klingt und ist auch nur sinnvoll, aber gut, wir lassen die anderen mal auch ihr Ding machen. Im Normalfall wird also die Frage "Was machst Du an Silvester?" entweder gleich als Teilfrage b) und in einem Atemzug mit der nach "Was machst Du an Weihnachten?" hinterhergeschoben und ist damit mit dem Erfahren des Ortes, der Tätigkeit und der beteiligten Personen gleichzusetzen oder aber sie kommt unschuldig aussehend alleine an, ist dann aber vielmehr maskierter Ausdruck unserer kontemporären Leistungsdisziplin in der Amüsier- und Ausgehkultur. Man muss auf alle Fälle was machen, was feiern, wo trinken, Konfetti-Time sowieso, Pseudo-Prophetismus aus deformierten Bleiklumpen, Freddie Frinton hopsend über den Tigerkopf (mindestens 20x und dank rapide zunehmender kultureller Schmerzfreiheit mittlerweile auch auf Schwäbisch, Hessisch, Kölsch und Sächsisch), euphorisches Countdown-Gezähle im Chor, Arsch abfrieren im Glitzerkleidchen bis auch der letzte Chinaböller hoffentlich unter Erhalt sämtlicher Extremitäten verböllert wurde, gefolgt von Beglückwünschungen, dass man es ins 'Frohe Neue' gepackt hat - was hätte man auch sonst machen sollen, alleine in 2015 bleiben ging ja schlecht.. Was hier klingt, als sei ich ein zynischer Silvester-Hasser ist vielmehr meine Wahrnehmung, dass in der letzten Nacht des Jahres noch mal DIE Party schlechthin gefeiert werden muss, weil man ja nicht 364 Nächte davor und danach Zeit hätte und dass sich das Durchschnitts-Individuum in einer Gruppe Menschen (je mehr, desto besser!) oder zumindest nicht zur Gänze allein eher zutraut, nicht von der potentiell bedrohlich anrollenden Melancholie-Welle umgeschwappt zu werden. Wer Silvester alleine (und dann auch noch ohne Alkohol) zuhause sitzt, kann nur einen an der Waffel oder sadomasochistische Tendenzen haben, so der meines Erachtens vorherrschende Tenor. Wer Silvester gar verschläft, ist gesellschaftlich diskreditiert. Der geneigte Leser höre den sarkastischen Unterton der letzten Zeilen heraus, habe ich doch für mich einfach die Variante bevorzugt "nichts besonderes" zu machen. Glücklicherweise wehte mir da aus Freundes-, Familien- und Bekanntenkreis nicht ein ansatzweise kritisches Lüftchen entgegen, es wurde in der Maximalität kommentiert mit "Oh, hast Du Dir das selbst so gelegt? Kann ja auch schön sein..". In der Tat hat es sich nicht anders ausgegangen, nachdem ich mit T. (ich bin hier gar nicht absichtlich mysteriös, sondern nenne ihn tatsächlich auch im echten Leben beizeiten so) ein paar sehr entspannte Tage vor Weihnachten in Mainz war, wir Weihnachten und die Feiertage in München verbracht haben und ich seit 27. wieder hier bin. Ich habe Anfang Januar noch ein paar Termine in Mainz und München wahrzunehmen, wollte aber eben keine 3 Wochen oder so durchgängig da sein, daher die silvesterliche Unterbrechung hier in Paris. Vielleicht war es auch ein mikroskopisches Herausforderungs- und Neugierpartikel in mir, ob und wie ich oben genannte, grundsätzlich mögliche Sentimentalität mit mir zu meistern schaffte: ich darf vermelden, der 31. Dezember sowie der 1. Januar sind faktisch ohne Kollateralschäden an mir vorüber, durch Uhr und Kalender hindurchgezogen. Bevor ich zum Wie komme, mag ich nicht verhehlen, mir doch den ein oder anderen Artikel zur grundsätzlichen Thematik des Alleine Verbringens (ob als Single oder als Nicht-Single aber alleine) reingezogen zu haben - der Erkenntnisgewinn war aber überschaubar. Und so belief sich meine "Vorbereitung" dann doch darauf, mir noch mal zu Vergegenwärtigen wie Allzeit-Muse und -Vorbild Carrie Bradshaw damit verfahren ist - was ich mir davon mitgenommen habe, ist das schöne Lied, die Gemütlichkeit des eigenen Bettes und die stylische Gemütlichkeit des zu wählenden Outfits. Im Gegensatz zu ihr habe ich meine beste Freundin allerdings nicht in der selben Stadt, hier liegt auch kein Schnee und ich würde sowieso schwerlich in Nerzmantel, Paillettenmützchen und weißen Heels durch weiteres Schneien hüpfen. Aber sei's drum.
Da ich also nachmittags noch im Museum war (Eintrag dazu wie angekündigt in den nächsten Tagen), fand ich mich gegen sieben oder acht in meiner Wohnung zurück und darf folgende Bestandteile als emotional und situativ stimmig für einen nach meinen Ansprüchen glückseligen Silvesterabend benennen: die Neujahrsansprache unserer Bundeskanzlerin, eine endgemütliche und fast schon abnormal modische, graue Sternchen-Leggings (bitte an dieser Stelle nicht lachen, danke), eine Goji Berry Duftkerze von Rituals, meinen neuen Nagellack in Amaranthine (H&M Sprache für rot-metallic, bisschen festlich und so), eine Miso-Suppe, mein gemütliches Bett, ein Lolli Sorte "karamellisierter Apfel", rumdaddeln am iPhone auf Instagram, eine Folge "Er sagt, sie sagt" aus der Süddeutschen, eine Wärmflasche an meinen Füßen und ein nicht-sentimentales Nachdenken, wofür ich dankbar bin in diesem Jahr und generell immer [ich gebe zu, dies endete in einem Facebook-Post, da der aber auf Englisch war und wir ja hier deutschschbreschen, gebe ich seinen Inhalt sinngemäß noch mal wieder].
1. Dass jedes Mal, wenn etwas nicht so geklappt hat, wie ich es ursprünglich gehofft hatte, sich etwas besseres ergeben hat. Jedes Mal.
2. Enge Freunde, die mir mehr Liebe gegeben haben als ich mir manchmal selbst geben konnte und die mir gezeigt haben, wie man sich selbst lieben lernt.
3. Dass der Mensch ein zur Selbstheilung fähiges Wesen ist.
4. Die Unendlichkeit an Menschen, die anderweitig intelligent und talentiert sind als ich, dank derer ich immer in der Lage sein werde, mehr zu lernen, meine Perspektive zu ändern, besser zu verstehen.
5. Umarmungen. Die alles in mir wieder an die rechte Stelle rücken.
6. Dass was auch immer fürchterliches in der Welt geschehen ist, weder ich noch meine Lieben davon betroffen waren oder verletzt wurden, sondern in Sicherheit und gesund geblieben sind.
7. Zweite Chancen. Vergebung. Die Fähigkeit zu sagen: Danke Dir für diese Erfahrung! und es auch so zu meinen.
8. Die skurrile Tatsache, dass ein Problem als solches zu erkennen gleichzeitig bedeutet sich bewusst zu werden, dass es eine Lösung dafür gibt.
9. Mein Studium. Die Tatsache, dass mir die Chance gegeben wurde und wird, das Leben in zwei großartigen Städten, München und Paris, zu erfahren.
10. Wie viel Glück in den kleinen Dingen liegt - wissend, dass Glück ständig zugänglich und eine Frage des Blickwinkels ist.
11. Der Geruch der Person, in die man sich verliebt, genau dann, wenn man sich in sie verliebt.
12. Die Tatsache, dass es möglich ist, sich wieder zu verlieben - sogar noch mehr als wir es zuvor getan haben.
13. Selbstbewusste Menschen in meinem Leben, die ihre Sicht der Dinge vertreten und aussprechen, die Schönheit und Größe und Wunder neu definieren und was es bedeutet zu leben - nur aufgrund der Art wie sie ihr Leben führen. Menschen werden zur Inspiration, indem sie sie selbst sind.
14. Alles, von dem ich genesen bin, alles, was ich gelernt habe, und wie glücklich zu sein, im Moment zu leben, mehr hervorzubringen, auf alle möglichen Arten großzügig zu sein, stets mit Dankbarkeit beginnt.
15. Dafür, dass ich so sehr respektiert, akzeptiert, geliebt, unterstützt, herausgefordert und um Rat gebeten wurde und immer noch werde.
Ich bitte nicht darum, dass 2016 irgendwie besser, aufregender, reicher, gelungener, gesünder oder glücklicher wird. Mit 2015 mitzuhalten wäre schon genug.
Bisous, Nina
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Wenn T.,dann L.... (Sonntag, 03 Januar 2016 12:10)
Einer der ergreifendsten , tiefgründigsten (entschuldigen Sie die Anhäufung der Superlative) und fundamental - realistischsten Danksagungen an das wunderbare Jahr 2015 , die ich lesen und an denen ich Anteil nehmen konnte. Ich würde sogar behaupten zutiefst (be-) 'rührend'....
Maybe you have to let go of who you where , to become who you will be...
I love & thank Carrie Nina Bradshaw