Generation Beziehungsunfähig

Ich muss gestehen, dass ich in den letzten Jahren wirklich wenige Bücher gelesen habe. Gerade stelle ich mir auch die Frage, ob es wohl "wenig Bücher" oder "wenige Bücher" heißen muss. Etwas was ich vielleicht wüsste, wenn ich mehr Bücher gelesen hätte. Dieser Mangel an literarischer Weiterbildung (wenn man Spiegel-Bestsellerliste und die Klassiker der Weltlektüre mal verallgemeinernd und vereinfachend in einen Topf wirft) liegt nicht etwa an Ignoranz, Renitenz oder fehlender Motivation meinerseits. Zumindest rede ich mir das ein. Vielmehr liegen die Gründe (oder die Ausreden) in mehrerlei Ursprüngen. Am dankbarsten ist ja wie wir alle wissen die liebe Zeit, die uns angeblich fehlt. Brutal aber realistisch ausgedrückt: die wir uns nicht bereit sind für etwas oder jemanden zu nehmen oder mit welcher Priorität wir Dinge kategorisieren. Im Fall der Priorisierung auch ein schöner Exkurs: der Vielen nicht geläufige Unterschied zwischen Wichtigkeit und Dringlichkeit. Aber das ist ein anderes Thema und führte hier zu weit. Also "ich hatte keine Zeit". Die letzten sagen wir mal 6 Jahre nicht. 6 Jahre sind für mich der sogenannte "Rechtfertigungszeitraum". Er umfasst ziemlich genau die Dauer meiner akademischen Ausbildung sowie meiner praktischen Erfahrungen. Abitur 2010, 3 Jahre Bachelor, 1 Jahr erste Masterhälfte, Gap Year, 1 Jahr zweite Masterhälfte. Here we are. Ich rechtfertige also mit dieser selbstgewählten Periode meines Lebens diverse Entscheidungen oder Entbehrungen, die ich für nicht mehr weiter um- oder fortsetzbar gehalten habe, zu einem Zeitpunkt, an dem ich nicht ahnen konnte oder gewollt hätte, wie sehr sie mir einige Jahre später abgehen würden. Das sind in der Tat recht vielfältige Arten meine Lebensweise zu ändern, sei es die Pferde zu verkaufen und anstelle des Reitens in die Gym zum Laufen zu gehen. Oder die in Kauf genommene Entwicklung, dass sich aufgrund meiner Umzüge in immer wieder wechselnde Städte und Länder eh schon eher lose Freundschaften in nur noch sporadischste Bekanntschaften verwandeln. Das gleiche gilt für eine Beziehung, die ich vielleicht (!) hätte kontinuierlich führen können, wenn ich nicht so unheimlich unterwegs und busy und international gewesen wäre. Stattdessen habe ich mich oft mit "nichts Ernstem" oder auch mal als letztes einer Fernbeziehung abgefunden - nichts was auf Dauer meinem Ideal oder meinen wahren Interessen entspräche. Aber gut. Das "vielleicht" ist legitim, denn nur weil man am selben physischen Ort ist, heißt es nicht, dass Beziehungen nicht doch scheitern können. Dass man nicht trotz körperlicher und örtlicher Nähe dennoch unendlich weit voneinander entfernt sein könnte, emotional betrachtet. Oder aus zehntausend anderen Gründen. Aber auch das würde den Rahmen an dieser Stelle sprengen. Gegenwärtiger Status für den ein oder anderen, der es sich gefragt haben mag oder den es interessiert, ist: Single. Oder "erfolgreich auf die Fresse gefallen". Wie ich neulich gelesen habe. Fand ich famos. Wobei ich dem Satz in meinem Fall ein "wieder" voranstellen wollte. 

Nun ja. Zurück zu den Entscheidungen. Meine Mutter und Alfons nur noch seltenst sehen zu können. Meine engsten Freundschaften (fast ausschließlich) über Telefonate, WhatsApp und Skype zu pflegen. Daran zu messen, wem ich und wer mir augenscheinlich wirklich wichtig ist und wen ich nicht verlieren wollte. Mich körperlich und seelisch an meine Belastbarkeitsgrenzen zu bringen, überzeugt von der gleichermaßen idiotischen wie meinem Ehrgeiz geschuldeten Überzeugung, sonst könne ich nicht das "Beste" erreichen. Was auch immer das Beste sei. Nun kann man - völlig unabhängig davon wie überaus positiv, erfolgreich und (tatsächlich an meinen eigenen Maßstäben gemessen) zufriedenstellend der Outcome meiner Ausbildung ist (sehr nämlich) alle vordergründigen Entbehrungen natürlich auch durchaus positiv auslegen. Oder sich schön reden. Je nachdem. Wenn man etwas will, muss man Opfer bringen, man muss sich anstrengen. There's no such thing as a free lunch. Leistung wird belohnt (meistens) und Faulheit wird bestraft (leider nicht oft genug). Das meritokratische Prinzip runtergebrochen auf Hauptsätze und durchaus mit meiner Haltung zum Leben kongruent. Und zufälligerweise mit der der Menschen, die mir am nächsten stehen. Faktisch hätte ich also nie meine Begeisterung für das Laufen oder die Gym entdeckt, hätte entsprechend nicht die Kondition und auch nicht das Wissen, wer mir wann fehlt, was ich in Freundschaften und Beziehungen wertschätze, die Erkenntnis immer wieder Dinge leisten zu vermögen, die ich mir vorher nicht zugetraut hätte. Ich würde all das nicht eintauschen wollen. Es macht mich zu der Person, die ich heute bin und die Frage "was wäre wenn..?" ist müßig, die Antwort darauf in Form von hypothetischen Szenarien unbefriedigend spekulativ. Mir fällt auf: ich bin ein wenig ausgeschweift. Ausgeschwiffen sozusagen. 

Platt ausgedrückt und zum Ursprung meiner Ausführungen zurück kehrend: ich habe wirklich nicht wesentlich mehr gelesen in den letzten Jahren, als das was akademisch gesehen notwendig gewesen wäre um die Klausuren zu bestehen oder privat betrachtet länger als die Welt am Sonntag, die Vogue, Elle, das Manager Magazin oder die Neon. Ein eklektischer Auszug meiner Vorliebe an Magazinen, der sich zugegebenermaßen ein wenig liest wie Erdbeeren mit Spargel und Aceto Balsamico. Auf den ersten Blick scheinbar nicht zueinander passend, auf den zweiten aber durchaus geschmacklich harmonisch. Tatsache ist aber: ich habe privat vielleicht 5-10 Bücher gelesen. Und 10 ist hier die sehr wohlwollende Schätzung gegen die deprimierend nagende Realität, dass es vermutlich doch eher 5 waren. Die ich nicht mal aufzählen könnte. Tatsächlich sind die Gründe dafür gleichermaßen nachvollziehbar (wir alle lesen regelmäßig die selbe Seite abends im Bett von neuem, weil wir nach just einer Seite einschlafen) wie mir eigene. Wobei. Vielleicht kann auch der ein oder andere eine mit fortschreitendem Lebensalter verkürzte Aufmerksamkeitsspanne bestätigen. Was länger als ein durchschnittlicher Artikel und ohne packenden Plot ist habe ich vergessen. Wie ein Goldfisch. Oder gar nicht erst verstanden, da lese ich das dann 3x bis die Botschaft klar ist. Man könnte hier auf Minderbemittelung, Grenzdebilität oder verdammt frühzeitigen Alzheimer schließen. Man könnte mich aber auch einfach mit Volumen und Komplexität der auf uns einprasselnden Informationen exkulpieren. Der Masse an Zeug, die man auf der Festplatte speichern muss, ohne dass sie einen interessierte. Und die regelmäßig nach Abgabe des Exams oder der These mit bescheidenen Mengen Alkohol (ich vertrage ja bekanntermaßen nicht viel) gelöscht und neu formatiert wurde. Für das nächste Semester. Der Irrglaube, der mich in dieses (wenngleich erträgliche) Schlamassel geführt hat liegt im Vergleich von Jahreszahlen in Geschichte und lateinischer Grammatik mit Inhalt eines betriebswirtschaftlichen Studiums bis zum Master. Hochintelligent muss man für beides nicht sein, wirklich richtig gut auswendig lernen konnte ich aber leider nur ersteres. Was auch erklärt, warum ich in Schulzeiten noch mehr zerebrale Kapazität für Harry Potter, TKKG und Co. habe aufwenden können. Anyway. Und drittens, weil ich ein sehr picky Leser bin. Wenn mich der Autor nicht auf der spätestens zweiten Seite packt, wenn ich nicht das unbändige Verlangen spüre zu erfahren wie es weitergeht, wenn auf meinem Nachttisch "der Stapel" wächst. "Der Stapel" ist übrigens das Pendant zu "dem Stuhl". Noch nicht dreckig genug für die Waschmaschine, aber zu getragen für wieder in den Schrank - willkommen auf "dem Stuhl". Willkommen auf "dem Stapel" also: zu unbegeisternd, um zu Ende gelesen zu werden, aber zu gesellschaftlich relevant, zu sehr Trend, zu teuer, zu sehr im Kanon, um in die Tonne oder zurück zu Amazon in den Marketplace gekloppt zu werden. In Anbetracht dieser viel länger als beabsichtigt geratenen Vorrede, ist es daher durchaus bemerkenswert, wenn ich tatsächlich mal ein Buch empfehle. Ja, erst mal, dass ich eines fertig gelesen habe. I know. Aber dann auch noch, dass es wirklich gut (und damit meine ich WIRKLICH GUT!) ist. Vor allem aber ist seine Zielgruppe altersmäßig sehr universell. Meiner Generation (sagen wir mal sehr großzügig zwischen 18 und 35 - auch wenn ich mich weder wie 18 noch wie 35 empfinde) spricht es aus der Seele. Jeder vorangehenden also älteren Generation erklärt es die Welt wie wir sie sehen und fühlen. Und zwar auf alles bezogen. Der Titel des Buchs lautet "Generation Beziehungsunfähig" und es wurde von Michael Nast geschrieben. Für jeden der nun die Augen verdreht und Beziehungsratgeber, Selbsthilfebuch oder sonst wie vom Titel hervorgerufenes Klischee assoziiert, dem sei gesagt: nicht. Nichts davon. Ein herrliches Stück der Gesellschaftskritik, eigentlich fast Gesellschaftssatire, das sprachlich geschliffen, amüsant und tragisch realitätsnah ist. Eine Leistung, mit der der Autor bei unterschiedlichem Leserklientel verschiedene aber vermutlich intendierte Reaktionen auslösen wird. Zielgruppe a) (siehe oben) denkt auf ungefähr jeder Seite: "Oh mein Gott. Der Typ hat so recht! Wieso habe ich dieses Buch nicht viel früher in die Hände bekommen, wieso brauchte es so lange bis das überhaupt mal jemand aufschreibt?" Zielgruppe b) denkt: "Ach deswegen machen die das so wie sie das machen. Jetzt verstehe ich das, was vorher Mysterium war, mir unbegreifliches wie verkommene Wertvorstellungen, unmögliches Datinggebaren, Karriereambitionen, Umgang mit neuen Medien, und und und. Plötzlich sehe ich das mal aus deren Brille und ich begreife wieso mein Sohn/meine Tochter sich so verhält wie er/sie sich verhält." 

Und selbst für den, der sich als Zyniker oder keiner der beiden Leserschaften zugehörig fühlt, hat es einen wie gesagt wirklich grandiosen Unterton der Realsatire. In einem Satz: Wenn man innerhalb von 5 Jahren ein Buch gelesen haben sollte, dann dieses. Und bei jemandem, der sich bewusst nur an dieses Buch innerhalb von 5 Jahren erinnern kann (=mir) will das wirklich was heißen. 

 

 

 

 

 

Dieser Post ist übrigens für Denise. Die mir dieses grandiose Buch empfohlen und ausgeliehen hat.

Für Pia. Die genau so desillusioniert ist wie ich.

Für Anna. Für Lisa. Für Anja. Ihr wisst warum.

Für alle anderen gut aussehenden, intelligenten, witzigen, treuen, charmanten jungen Frauen, die sich so unnachvollziehbar schwer tun. In einer Zeit, in der Beziehungen komplizierter geworden sind, geredet nur noch über WhatsApp wird, Diskussionen am Telefon stattfinden, Gefühle über Facebook mitgeteilt werden, Sex leicht zu haben (siehe Tinder) und das Wort "Liebe" völlig aus dem Kontext geraten ist. In der Vertrauen keinen Stellenwert mehr einnimmt, Fremdgegangen aus Versehen wird, Schluss machen die einzige Option ist und verletzt zu werden natürlich wurde. In einer Zeit, in der gefragt wird "Ist das Liebe oder kann das weg?".

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