Kunst in meiner Wohnung

Heute möchte ich über etwas schreiben, das ich jeden Tag sehe. Wenn ich aufstehe, wenn ich schlafen gehe, wenn ich heimkomme, wenn ich aus der Dusche stolpere und meine Haare trocken rubbele. Es handelt sich dabei um ein Bild, ein Gemälde oder ein Kunstwerk in einem dunklen Holzrahmen, geschätzt 120x150cm. Ganz lange hat es an der Wand über meinem Bett gelehnt, aufhängen kam irgendwie nicht so cool. Mittlerweile habe ich es aber tatsächlich mal aufgehängt - man entwickelt sich ja auch weiter.

Ich habe es zu meinem 25. Geburtstag von jemandem geschenkt bekommen, den ich letztes Jahr im Herbst kennen gelernt habe. Und von dem ich sehr lange nicht wusste, was er für mich bedeutet (und ich glaube, das Gefühl beruhte und beruht auf Gegenseitigkeit). Alle Menschen, die in unser Leben treten, haben eine Aufgabe, sie sollen uns etwas zeigen, lehren, empfinden lassen. Manchmal begleiten uns diese Menschen nur in bestimmten Phasen und danach verschwinden sie wieder, manch andere bleiben für immer. Nun ja. Wie bin ich darauf gekommen? Achso. Ich habe dieses Kunstwerk also von einem dieser Menschen bekommen, die plötzlich da sind und von denen man noch nicht genau weiß, warum und wie lange sie welche Rolle für uns spielen. Manchmal hat man ja Intuitionen, manchmal hat man auch Hoffnungen oder Vorstellungen von Länge der Anwesenheit und mit ihnen verbundenen Gefühlen, manchmal macht einem aber auch das Leben einen Strich durch die Rechnung und alles kommt anders. Besser, schlechter oder einfach anders. Anyway. Zurück also zu dem Bild. Vielleicht beschreibe ich es erst einmal, denn das habe ich im von mir sehr geschätzten Kunstunterricht in der Oberstufe gelernt: zuerst beschreiben, was man sieht, dann erst, was man daraus interpretiert. Es hat die Farbe einer Kreidetafel in der Schule, dieses leicht verschmierte tafelgrün, in etwa so als sei jemand beim Tafelwischen ein wenig nachlässig gewesen. Es hat einen schwarzen, schmalen Rahmen und zeigt von links unten nach rechts oben angeordnet und mit Kreide geschrieben drei Formeln: eine mathematische, eine chemische, eine physikalische. Einen Bruch, eine Strukturformel, eine Ableitung. In den ersten Wochen hatte ich keine Ahnung, was ich mit diesem augenscheinlich primär intellektuellem Gekrakel sollte, dennoch fand ich die Geste gewissermaßen berührend. Wir hatten uns kurz nach unserem Kennenlernen in einem meiner liebsten Museen in München, dem Museum Brandhorst, getroffen, um dort die damals aktuelle Cy Twombly Ausstellung "In the Studio" anzusehen. Auf der Eingangsebene hängt ein imposantes Gemälde - in eben jener Kreideanmutung, allerdings ohne erkennbare Buchstaben oder Zeichen. Im Nachhinein kann ich mich nicht mehr an den Namen entsinnen, aber es war gewaltig und wir waren beide beeindruckt. Es entspann sich also ein Gespräch darüber, wie groß ein Haus sein müsse, damit man das unauffällig im Flur platzieren könne und die ca. 6x8m nicht protzig wirkten. Ob man darauf vermerkte "Schatz, bitte Milch einkaufen" und ob der Sinn darin zweckmäßiger oder ästhetischer Natur sei. Wir taten also das, was Kunst mit einem tun soll: wir sponnen unsere eigenen Gedanken und ließen uns von dem Bild zu etwas bewegen. Zumindest ist das meine Auffassung von dem, was Kunst mit einem tun soll. Und bitte niemals fragen "Was will der Künstler damit sagen?". Bitte nicht bei Kunst und auch nicht bei Gedichten oder Musik. Der Künstler will im Zweifel gar nichts sagen, sondern vor allem Geld verdienen, und es ist auch unerheblich was er damit sagen wollen könnte, weil es alleine darauf ankommt, was wir daraus mitnehmen. Das war jedenfalls der Hintergrund dazu, bevor ich mir einige Wochen später erklären ließ, was es nun mit diesen kryptischen Berechnungen auf sich hat. Es hat mir bald die Schuhe ausgezogen, weil ich so viel Tiefgründigkeit an dieser Stelle nicht erwartet habe.

 

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Glaubt man der Untersuchung des britischen Mathematik-Dozenten Peter Backus von der Warwick University in England, ist es ziemlich unwahrscheinlich bis nahezu unmöglich, jemals im Leben den oder die "Eine/n" zu finden. Auf Basis der sogenannten "Drake-Formel", mit der der Astrophysiker Frank Drake in den 60er Jahren die Anzahl möglicher Außerirdischer im Universum bezifferte, errechnete Backus die Wahrscheinlichkeit, seiner perfekten Partnerin zu begegnen. Das ernüchternde Ergebnis: Unter den 30 Millionen in England lebenden Frauen sollen nur 26 potenzielle Kandidatinnen sein, die (so Backus' Must-haves) zwischen 24 und 34 Jahre alt sein und in London leben sollten. Umgerechnet (und ich glaube, nach noch ein paar weiteren Rechenoperationen) entspricht das wohl einer Wahrscheinlichkeit von etwa einer pro 285.000. Womit wir bei oben stehender Formel wären. 

Daraus könnte man nun folgendes machen: man könnte sich darauf stützen, dass man zwingendermaßen nach 285.000 Bekanntwerdungen und/oder Dates sowie einer verdammt guten Intuition zwangsläufig den oder die "Eine/n" gefunden haben MUSS. Man kann sich davon deprimieren lassen, denn es sagt aus, dass derjenige, der abends neben einem auf dem Sofa sitzt, mit nur 0,00000004%iger Wahrscheinlichkeit derjenige ist, der unübertreffbar gut zu uns passt. Man kann sich davon auch beflügeln lassen und fest daran glauben, man habe die Statistik besiegt. Ich.. werde nichts dergleichen tun. Ich nehme die Existenz dieser Formel hin, ich akzeptiere sie. Aber ich glaube nicht an sie, weil ich nicht daran glaube, dass sich das Leben in Berechnungen zähmen lässt. 

Gerüstformel Endorphin [sic!]

"Die ist mir aber ein bisschen missraten, kann sein, dass es auch was anderes ist. Aber Endorphin war jedenfalls gemeint." Hier abgebildet seht Ihr Adrenalin, ein Stress- oder Angsthormon, manchmal auch "Benzin der Angst" genannt. Einmal ins Blut ausgeschüttet, bewirkt es eine kurzzeitige Herzfrequenzsteigerung und raschen Blutdruckanstieg, unser Körper mobilisiert Energiereserven - wir können (beispielsweise) fliehen. Eine meinem Gemälde auf den ersten Blick ebenfalls nicht ganz unähnliche Gerüstformel (Chemiker würden mich spontan lynchen wollen) scheint Melatonin zu haben. Es steuert den Tag-Nacht-Rhythmus des menschlichen Körpers und kann bei tagsüber zu hohen bzw. nachts zu niedrigen Spiegeln zu sogenannten Winterdepressionen beziehungsweise Schlaf- und Gedächtnisproblemen führen. Damit kämen wir der Sache schon näher, denn ich komme mittlerweile wieder in ein Alter, in dem man schon mal abends quengelig wird, wenn tagsüber der Mittagsschlaf ausgefallen ist. Womit ich das Ganze aber tatsächlich verknüpfen würde (und zwar nicht wegen dem Erschaffer meines Bildes, sondern weil ich grundsätzlich sehr viel von Liebe im allgemeinen halte) und was außerdem auch ein bisschen in Richtung Endorphin geht, wären die "Verliebtheitshormone", vorrangig bekannt unter ihnen Dopamin ("Belohnungs-Neurotransmitter"), Serotonin ("Glücks-Botenstoff") und Oxytocin ("Schmusehormon"). Zurück aber zu unserem ursprünglich intendierten Endorphin, Kurzform von "Endogenes Morphin". Es handelt sich also um vom Körper selbst produzierte Morphine, die schmerzlindernd bzw. schmerzunterdrückend wirken, beispielsweise der Grund, aus dem manche schwer verletzten Menschen zunächst keine Schmerzen verspüren. Andererseits werden Endorphine auch bei positiven Erlebnissen ausgeschüttet, was ihnen den leicht irreführenden Namen "Glückshormone" eingebracht hat. 

 

Gravitationswellen - oder etwas, dessen Existenz lange für unmöglich gehalten wurde

Die rechte obere Ecke der Tafel bildet einen Teil des mathematischen Nachweises zum Vorhandensein von Gravitationswellen ab. Analog zu Lichtwellen, so erkannte Einstein 1916, muss es auch Gravitationswellen geben. Die entscheidende Beschreibung – die Quadrupol-Formel – fand er 1918. Gravitationswellen bestehen nicht aus elektromagnetischer Strahlung, sondern aus Schwingungen der Raumzeit. Und nein, das weiß ich nicht einfach so, das habe ich gegooglet. Physik ist nämlich vor der Oberstufe aus Überlebenswillen bei mir aussortiert worden. Gravitationswellen entstehen also, wenn Massen umeinander kreisen, miteinander kollidieren oder in sich zusammenstürzen. 

Fast so wie Menschen, wenn sie sich verlieben, sich streiten oder ihnen etwas wirklich schlimmes widerfährt. Der Punkt ist aber ein anderer: Einstein hatte besagte Krümmungen in der Raumzeit stets vorhergesagt, nachgewiesen wurden sie aber bis 2016 nie - nie zuvor hatte jemand sie messen können. "Es geht darum, dass alle immer gedacht haben, die gäbe es nicht." Spontan regt sich in mir der Impuls, das mit anderen Dingen zu vergleichen, von denen (mittlerweile) viele sagen, es gäbe sie nicht (mehr). Liebe auf den ersten Blick. Lebenslange Partnerschaft. Den Zufall, durch den Menschen plötzlich in unser Leben fallen und man sich nie hätte vorstellen können, was sie für uns werden..

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