Jede Entscheidung ist ein Massenmord an Möglichkeiten

Jeder kennt es, viele hassen es, daran scheiden sich die Denker von den Machern, die "vielleicht's?" von den "JA's!". Ich spreche davon, Entscheidungen zu treffen - was ein richtiger pain sein kann.

Mich treibt das Thema zwar schon seit Jahren unterbewusst, seit geraumer Zeit aber immer mal wieder wahrgenommener um. Im Folgenden also der hoffentlich realitätsnahe Versuch zu erklären, was manche Entscheidungen so schwer macht, warum wir die sind, die sie sich schwer machen und warum ich selbst abhängig vom Kontext sehr gut oder sehr schlecht im Entscheidungen treffen bin. 

[Im Voraus: Entschuldigung für die romanartige Länge des Textes - ich konnte mich einfach nicht entscheiden, welchen Teil ich wegkürzen hätte sollen..]

 

Zunächst einige grundlegende Dinge.

Entscheidungen können lebensweisender, mittelwichtiger oder belangloser Natur sein, die Grenzen ebendieser Kategorien sind eigentlich großteils mit gesundem Menschenverstand abzuzirkeln, trotzdem aber oft noch sehr individuell und mögen durchaus wabern. Zwei kleine Beispiele zur Veranschaulichung: sowohl die Entscheidung, ein Kind in die Welt zu setzen wie auch die, sich ein Tattoo auf der Stirn zuzulegen, sind es wert wenigstens 2x überdacht zu werden, sie könnten tatsächlich lebensweisende Wirkung entfalten. Dagegen ist für viele Menschen, die Entscheidung, welches Duschgel sie kaufen eher belanglos. Nicht für mich, aber dazu komme ich noch.

Des weiteren divergieren Entscheidungen darin, wie man sie trifft. Es gibt die, die man bewusst trifft, weil man sie treffen muss bzw. weil sie wichtig sind. Gleichzeitig gibt es welche, die so automatisiert ablaufen, dass wir sie nicht oder nicht mehr als solche wahrnehmen - der Mensch trifft laut Psychologe Daniel Kahnemann täglich 40 Millionen unterbewusst. Das muss man sich wirklich mal reinziehen. Und dann gibt es noch die Entscheidungen, die uns treffen (die "Lotterie des Lebens", die Schicksalsschläge)  - um die soll es aber hier und heute nicht gehen.

Und zu guter letzt, die von vielen für existent gehaltene Option, sich einfach "nicht zu entscheiden". Die gibt es aber nicht. Zumindest nicht wirklich. Sie ist vielmehr ein falscher Freund, weil sie einem vorgaukelt, sie könne einen von der Verantwortung und den Konsequenzen entbinden, die "ich mache A" oder "ich mache B" mit sich bringen. Kann sie aber nicht, denn "nicht A und nicht B" gleichen halt "C". Und auch C wird seine Folgen haben - wahrscheinlich. Der schlimmste Weg, den man wählen kann, ist oftmals der, keinen zu wählen oder: wer versucht, sich stets alle Türen offen zu halten, verbringt sein Leben auf dem Flur.

 

Ich wollte das eigentlich recht akademisch abhandeln und nun die Phasen beschreiben, in die sich eine Entscheidungsfindung gliedert. Viel spannender erscheint mir aber die Frage, was es für uns so schwierig macht, eine Entscheidung zu treffen. Daher fange ich damit mal an. Die meisten Menschen charakterisieren sich in Bezug auf Entscheidungen anhand von 3 Merkmalen: erstens möchten sie eine möglichst gute und/oder richtige, wenn nicht gar die perfekte Entscheidung treffen anhand der Informationen, die sie zu ebenjenem Zeitpunkt zur Verfügung haben. Zweitens können sie nicht in die Zukunft schauen, haben aber doch gewisse Mutmaßungen wie die oft gefürchteten Konsequenzen aussehen könnten. Diese "Furcht" skaliert sich von der Unruhe eines "was, wenn ich mich hinterher unwohl mit meiner Zahnpasta-Wahl fühle?" (klassischer Fall von Mini-Kaufreue) bis zu "was, wenn diese Entscheidung mein Leben derart beeinflusst, dass sie mich davon abhält, glücklich zu werden?" (darunter fallen z.B. Berufswahl und Ehe). Es erscheint lachhaft, aber selbst die erste der beiden kann schon sehr unangenehm auszusitzen sein. Drittens können sich die Menschen mit steigender Anzahl an Optionen schlechter entscheiden. Darunter fällt auch mein "Duschgel-Dilemma".

Perfektionismus und Ungewissheit also gepaart mit der Verantwortung, die man zumeist alleine tragen muss und kombiniert mit unserer sich in vielen Lebensbereichen rasant vervielfachenden Menge an Möglichkeiten - eine interessante bis toxische Mischung.

 

Nun ist das alles sehr theoretisch, daher fülle ich es mal mit ein wenig Leben. Die folgenden Anekdoten erheben weder Anspruch auf Vollständigkeit noch legten sie Wert auf Chronologie - manche Entscheidungen prasseln ja nicht einmal, sondern immer wieder auf einen ein. Ich finde sie nur plakativ und hübsch zu erzählen.

Eine der ersten großen Entscheidungen also, an die ich mich in diesem Kontext erinnere, ist die meiner Studien- bzw. Berufswahl. Ich wusste, was ich wollte, so dachte ich zumindest. Bis zu dem Punkt, an dem klar wurde, dass die beiden Dinge, die ich wollte in einem eher unwahrscheinlichen bis unmöglichen Szenario miteinander vereinbar sein würden. Konkret ausgedrückt: ich hatte großes Interesse an Kunstgeschichte, Vergleichender Literaturwissenschaft und Anglistik und wollte gleichzeitig auch zukünftig meinen schon damals eher überdurchschnittlichen, angenehmen Lebensstandard aufrecht erhalten. Entweder ich machte also das, von dem ich dachte, es mache mich intrinsisch glücklich, weil es mich interessiert oder ich machte das, was sinnvoll erschien. Ich hatte kaum Ahnung von den Konsequenzen, eigenartigerweise beschäftigte ich mich aber auch gar nicht so sehr mit ihnen. Normalerweise muss man sagen: Mach’ Dir nichts vor – Du kennst höchstens Deine Erfahrung, aber nicht die Zukunft. In diesem Fall konnte ich nicht mal mit der Erfahrung bisheriger Studienwahlen aufwarten, ich hatte schlicht keinerlei Vergleichswerte - wie so ziemlich jeder junge Mensch an diesem Punkt im Leben. Wer mich kennt, weiß: ich habe BWL studiert, also etwas in den Augen vieler "Vernünftiges" gemacht. Im Nachhinein kann ich sagen: richtige Entscheidung. Die damals nicht ich, sondern in der Tat meine Mutter für mich getroffen hat und der ich nicht widersprochen habe. Freunde, wir geben es ungern zu, aber manchmal haben Eltern Recht!

Wenn ich jemandem heute diese Geschichte erzähle, werde ich oft gefragt: "Wärest Du mit dem anderen glücklicher geworden, also wenn Du das andere studiert hättest?". Meine Antwort darauf ist dann die immer gleiche: "Ich weiß es nicht, kann ich auch nicht mal hypothetisch einschätzen. Aber ich weiß etwas anderes: wir können nur ein Leben leben. Wir können nicht an einem bestimmten Punkt sagen, dass wir eine vor 10 Jahren getroffene Entscheidung noch mal vor 10 Jahren anders treffen und schauen wie sich das Leben in Szenario B entwickelt. Wir sind bekanntermaßen keine Zeitreisenden und wir können Wege, die wir einmal gehen eben nicht noch mal gehen." 

 

Kommen wir nun zu einer Situation der anderen Wichtigkeits-Kategorie, die mich erst vor kurzem ereilte. Ich war noch nicht mal Protagonistin, ich war nur begleitendes Beiwerk, das um seine Meinung befragt wurde - tatsächlich hätte ich es aber auch selbst sein können, so schwer wie wir uns taten. Es ging darum, einen Herrenduft auszusuchen.

Ich fand mich also an einem brütend heißen Samstagnachmittag im Douglas in der Theatinerstraße vor einer Wand aus Minimum 500 Düften, Aftershaves und Co.  Das von mir im Folgenden geschilderte Erleben ist übrigens auch psychologisch erforscht. Es gab mal ein Experiment, in dem zwei verschiedene Gruppen von Kunden entweder 24 Sorten oder sechs Sorten Marmelade probieren durften. Ergebnis: die, die 24 testen durften, kauften weniger als die, die nur sechs testeten. Und sie waren obendrein unzufriedener. Das erklärt der Psychologe Barry Schwartz so: Kann man unter vielen Möglichkeiten wählen, hat man immer das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Wir konnten also quasi fast nur verlieren. Keine ermutigende Erkenntnis im Nachhinein.

Aber zurück zur Geschichte. Man sollte vielleicht noch vorab erwähnen, dass der Favorit des Entscheiders schon vor Betreten des Geschäfts Acqua di Giò von Giorigio Armani war und mein alltime favorite Boss Bottled ist. Kommentar zu letzterem war aber: "zu mainstream, das trägt doch echt jeder". Alright, dann eben das nicht - ich muss mich ja hier nicht entscheiden.

Klug erschien uns beiden, bei etwas zu starten, was man kennt und gut findet. Auch für in dem Fall diejenige (mich), die als Begleitung bislang nicht um die Vorlieben des Entscheidungsträgers weiß. Gemeinsame Basis schaffen und so. Wir begonnen also bei Terre d'Hermès - holzig, stark und sehr maskulin - für einen sommerlichen, legeren Duft definitiv zu heftig. Es folgten (wie man es sich vorstellt) unzählige Teststreifen, die nacheinander mit so ziemlich allem, was die Welt der Herrendüfte hergibt, besprüht wurden. Von Sauvage und Fahrenheit (beide Dior), über Bleu, Allure, Allure Homme Sport, Égoïste (alle Chanel), zu Emblem, Legend und Legend Spirit (Montblanc), alle 4 Sorten von Armani Code (eine reicht nicht!), The One und Light Blue (Dolce & Gabbana), alle 10 Sorten der aktuellen Colonias von Acqua di Parma bis zu L'Homme Ideal und L'Homme Ideal Sport (Guerlain). An diesem Punkt waren wir und unsere Nasen kurz vor der Kapitulation, genervt, dass sich manches Eau de Toilette auch für einen Giftgasangriff nutzen ließe (dafür aber im gut dreistelligen Eurobereich liegt) und weit entfernt von einem Favoriten oder gar einer Entscheidung. Ich kürze es ab: ich beschloss, dass wir Beratung benötigten, wir testeten 2 Düfte auf der Haut des Misters, drehten eine viertelstündige Überlegungsrunde durch den benachbarten Nespresso Store und entschieden uns schlussendlich für keinen der beiden, sondern.. Trommelwirbel.. Acqua di Giò. 

Mich nerven solche summa summarum ca. 1 stündigen Unterfangen nicht mal ansatzweise, weil ich selbst ebenfalls ungefähr alles halbwegs in Frage kommen könnende durchtesten würde, um mich dann für meinen anfänglichen Favoriten zu entscheiden. Nur um auf Nummer sicher zu gehen. Und um das gleich noch mit meinem "Duschgel-Dilemma" zu linken: Duschgel kaufen ist für mich ein 1 1/2 monatlich wiederkehrender Graus. Zu neugierig, um immer wieder das Gleiche zu nehmen (auch weil mich bislang nichts langfristig überzeugt hat), zu oberflächlich, um mich für eine gut duftende Option in einer in meinen Augen hässlichen Flasche (die nicht gut zu den anderen Flaschen in meiner Dusche passt), zu fixiert auf Inhaltsstoffe, die nicht der letzte Parabene-Erdöl-Schrott für meine Haut sind, zu.. unentschieden. Und frustriert. Momentan benutze ich das hier - ist solide ;)

 

So. Und all das bin ich nur privat. Im Job habe ich im Hinterkopf immer das weiche "Gewissens-Kissen" von „slower deciders make better strategists“, was ich nicht mal bräuchte, da ich mich hier eh schon entschieden einfacher tue. Farbtypologisch mit starkem Rotanteil bin ich ein Macher, der sogenannte "Initiator" und "Reformer". Mir fällt es leicht zu entscheiden, ob man ein bestimmtes Projekt aus strategischen, taktischen oder direkt Business relevanten Gründen verfolgen sollte oder eben nicht. Mir fällt es leicht, Schritte zu gehen, wenn ich sie für sinnvoll halte, Dinge ohne Zaudern anzupacken, wenn mir vermittelt wird, dass sie meine Top-Priorität sind, Menschen anzusprechen, mit denen ich zusammenarbeiten muss oder die ich für interessant und hilfreich für mein Netzwerk halte.

Was macht es mir so viel einfacher, hier entschieden und willensstark, überzeugt von meiner eigenen Einschätzung und furchtlos vor Konsequenzen voranzugehen? Nun ja. Obwohl es mein Job ist, der mir sehr viel bedeutet, mit dem ich mich identifiziere, den ich gerne mache, ist es am Ende des Tages eben doch auch "nur" ein Job. Ich treffe Entscheidungen, bei denen genug Menschen mir zutrauen, dass es die für das Business richtigen sind, ich kann Kollegen oder meinen Vorgesetzten um Rat fragen, ich bin also nicht mit mir allein. Ich bewege mich in Szenarien, die wenn sie schief gehen, mich nicht meine Anstellung kosten und die vor allem emotional nicht tief in mich schneiden. Klar, ich ärgerte mich, wenn ich mich falsch entschiede, aber ich kann berufliche Fehler analysieren und den Prozess spätestens mit Projektende abschließen. Wenn ich mich im Privaten aber nur beispielsweise entscheide, Gefühle für jemanden zuzulassen, mich in jemanden verliebe, dem ich nicht hätte vertrauen sollen, weil er mir dann doch wehtut, sind die emotionalen Konsequenzen eine ganz andere Hausnummer. Die Fallhöhe bei beiden ist einfach eine andere, private Miss-Entscheidungen kann ich fürderhin nicht mit meinem Laptop zuklappen, die hängen mir länger nach. 

 

 

 

Zum Abschluss möchte ich gerne ein paar Perlen der Weisheit zitieren von Menschen, die wortgewandter waren oder sind, als ich es je sein werde und die auch ihre 5 Cent zu Entscheidungen abgegeben haben. Und die vielleicht eine guidance darstellen oder einfach zeigen, dass es anderen genauso geht.

 

Es ist oft besser, etwas zu tun, als etwas nicht zu tun, egal ob positiv oder negativ.

Am Ende lernt man aus dem Handeln, nicht aus dem Nichtstun. (Unbekannt)

 

Es ist besser, unvollkommene Entscheidungen durchzuführen,

als beständig nach vollkommenen Entscheidungen zu suchen, die es niemals geben wird. (Charles de Gaulle)

 

 

Eine meiner lieb geschätztesten Schriftstellerinnen, Julia Engelmann (bei vielen besser bekannt als die "Poetry Slam Tante"), schreibt in Teil 2 ihrer "Bestandsaufnahme in 3 Teilen":

Was ich alles hab’, aber nicht will

Ich hab’ Angst, ich hab’ Angst vor falschen Entscheidungen und davor, mich nicht zu entscheiden.

Ich hab’ Angst, irgendwo weg zu gehen und mir eigentlich zu wünschen zu bleiben.

Ich hab’ Angst, Fehler zu machen, auch wenn ich weiß, dass sie wichtig sind.

Ich hab’ Angst zu spät zu merken, welche Wege doch richtig sind..

 

 

Wen eines der oben angerissenen Themen näher interessiert, dem sei der Artikel "Die Kunst der Entscheidung" (Zeit Online, 2011) empfohlen und/oder der Douglas Onlineshop, Kategorie "Herrendüfte".

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