Was machen wir hier eigentlich?

"Du hast seit bestimmt 4 Wochen nichts mehr geschrieben." "Oh. Echt? Ja, stimmt. Es kam mir irgendwie gar nicht so vor, aber Du hast recht. Ich weiß auch nicht, irgendwie habe ich kein konkretes Thema, sondern eher viele diffuse." "Ah. Naja."

Wir - und damit meine ich mich und viele andere Menschen – haben in vielen Dingen einiges gemein. So unterschiedlich unsere Leben und Persönlichkeiten und Umstände, in die wir hineingeboren werden oder die uns ereilen auch sind, uns verbindet manch Elementares und das machen wir uns gar nicht allzu oft klar. Ich möchte heute über zwei dieser Aspekte schreiben.

 

Die Zeit rast

Wie schnell wir empfänden, dass die Zeit vergehe und dass sich dieses Empfinden immer drastischer in unserem individuellen Bewusstsein nach vorne schiebe, sei ein Altersphänomen sagte man mir immer. Vor allem Menschen, die älter waren als ich sagten mir das und die, die jetzt älter sind als ich sagen es mir immer noch. Doch daran glaube ich nicht. 

Ich glaube schon als vergleichsweise junger Mensch sehr stark zu spüren, wie sehr die Zeit rast und dass sie sich gefühlt beschleunigt anstelle in ihrer von Kalender und Uhr vorgegebenen Gleichmäßigkeit nach vorne zu fließen. Tatsächlich braucht die Zeit und mit ihr die Wochen, Tage und Stunden immer genau gleich lang für alles. Ihr ist es egal, was in der Welt passiert, sie schreitet unaufhörlich und unaufhaltsam voran. Alle Jahre sind, wenn man das Prinzip des ominös auftauchenden 29. Februar und die Existenz nanosekündlicher Abweichungen vernachlässigt, gleich lang. Die Zeit macht uns alle gleich, gleich ausgeliefert, denn niemand kann ihr für immer entfliehen. 

Aber: perception is reality. Und so haben wir stattdessen jedes Jahr das Gefühl, die Zeit vergehe schneller als im Jahr zuvor.  Rilke sagt zu Zeit und Leben in einem seiner frühen Gedichte:

 

Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge 

und keine Heimat haben in der Zeit. 

Und das sind Wünsche: leise Dialoge 

täglicher Stunden mit der Ewigkeit. 

 

Und das ist Leben. Bis aus einem Gestern 

die einsamste Stunde steigt, 

die, anders lächelnd als die andern Schwestern, 

dem Ewigen entgegenschweigt. 

 

Ich sage zu dem obigen, dass ich schon wieder nicht weiß, wo das bisherige Jahr geblieben ist. Dass ich nicht sagen könnte, was ich an den meisten dieser Tage besonderes gemacht hätte außer vermutlich zwischen 2 und 12 Stunden in irgendeine Art von Screen zu starren. Dass mich die auf mich leder- und rostbraun herab segelnden Blätter so unvorbereitet treffen wie der Wind, der mich frösteln lässt, wo er mich noch vor zwei Wochen angenehm gekühlt hat. 

 

 

What will survive of us is love

Einer meiner liebsten Sprüche. Ich glaube, er ist sehr wahr. Mittlerweile weiß wahrscheinlich fast jeder, der hier ein bisschen liest, der mich kennt, wie sehr ich mich mit der Liebe auseinandersetze, für wie fundamental wichtig ich sie halte. Nicht wie sehr ich dazu forsche oder wie viel ich darüber weiß. Aber dass sie mir am Herzen liegt. Das habe ich hier, hierhier und hier schon beschrieben.

Uns wird also nur die Liebe überdauern, wenn wir mal nicht mehr sind – selbst, wenn wir Kinder und Enkelkinder und Urenkelkinder hinterlassen, so werden auch die irgendwann nicht mehr sein. Was von uns bleibt, allerdings auch nur in den Menschen, deren Lebenszeit sich mit unserer überschnitten hat, sind tatsächlich die Erinnerungen an uns: was waren wir für Menschen, wie sehr haben wir gelebt, wie moralisch haben wir entschieden. Wie sehr wir geliebt haben und wie viel Liebe wir in diese Welt gegeben haben aber bleibt (in zugegeben wahrscheinlich nur meiner Denke) für immer. Ich stelle mir die Welt wie ein geschlossenes System vor, in dem Liebe nicht vergeht, verschwindet oder in die Atmosphäre diffundiert. Ich glaube, wenn wir sie einmal gegeben haben oder uns einmal eingestehen, dass und wenn wir sie fühlen, ist sie da und geht nie wieder weg. Sie geht vielleicht von einem Menschen, den wir nicht mehr lieben zu einem anderen, aber sie verschwindet nicht mehr. Liebe stelle ich mir wie unkaputtbare Materie vor und das ist ein schöner Gedanke.

 

Es gibt hin und wieder Augenblicke, in denen ich auf meine Beziehungen zurückblicke und mich frage, ob ich meine Ex-Freunde geliebt habe. Ob ich ein Gefühl gespürt habe, wie ich es unter Liebe verstehe. Ich weiß, in welchen Fällen ich es bejahen kann und das sind glücklicherweise die meisten.

Dem ein oder anderen wird der Fragebogen mit 25 Fragen des Schweizer Schriftstellers Max Frisch ein Begriff sein, dieser ist mittlerweile weltberühmt. Eine der besagten Fragen lautet: „Lieben Sie jemanden? Und falls ja, woraus schließen Sie das?“ Tja, das ist eine sehr gute und gleichzeitig sehr schwer zu beantwortende Frage. Eine Frage, die sich jeder an einem bestimmten Punkt oder auch an mehreren einmal stellen sollte. Und how do you know you’re in love? Well, you just know reicht hier nicht.

Der Schriftsteller Jonathan Franzen hat so geantwortet: „Mein Herz sagt es mir, und mein gesunkenes Maß an Selbstsucht liefert verlässliche Beweise dafür.“ Besser kann man es wohl nicht formulieren.

 

Gleichzeitig sollten wir uns bisweilen damit auseinandersetzen, wie unsere Gesellschaft in Teilen liebt. Und das ist nicht selten wie folgt der Fall: viele Menschen und ich weiß nicht, ob die drastische Konkretisierung „die meisten“ gerechtfertigt ist, leben eine narzisstische Liebe. Sie lieben nicht einen Menschen, sondern das Gefühl, das er ihnen gibt, sie brauchen die Gefühle des anderen, um sich selbst zu bestätigen und sie verwechseln Selbstliebe mit Selbstverliebtheit. In der Bedarfsweckungsgesellschaft, in der wir leben, brauchen wir kein Telefon, sondern das neueste iPhone, wir müssen uns permanent selbst optimieren wollen, damit das System funktioniert. Die Feststellung, dass die Gefühle eines anderen Menschen für uns nur unserer Eitelkeit schmeicheln und nicht mehr, macht der von mir hoch geschätzte Michael Nast in seinem Text „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“.

Erich Fromm, für den die Liebe zu sich selbst unabdingbare Voraussetzung für die Fähigkeit jemand anderen zu lieben ist, habe ich schon das ein oder andere Mal gedanklich an die Wand geklatscht. "You can’t love someone unless you love yourself first“. Bullshit. I have never loved myself. But you. Oh god, I loved you so much I forgot what hating myself felt like.

 

Tja, aber ich meine, wer liebt sich schon selbst? Auch wenn uns das Tag ein Tag aus gepredigt wird. Ich kenne niemanden. Aus diesem Blickwinkel ist es auch nachvollziehbar, warum wir uns überhaupt verlieben, inwieweit unsere Gefühle etwas mit der anderen Person zu tun haben. Wir verlieben uns entweder in Schnittmengen eines zweiten Menschen und Lebens mit uns selbst und unserem    Leben oder tatsächlich in etwas, was wir gar nicht begründen können. Der zweite ist immer der schönere Fall.

 

Bisher sind – offenkundig - all meine Beziehungen irgendwann in die Brüche gegangen und das reicht von nahezu geräuschloser, erschütterungsarmer Auflösung der gemeinsamen Idee von einem Uns bis zum ohrenbetäubenden Aufprall und gleichzeitig stumm schreienden Zerspringen eines Lebensplans in tausend Scherben. Ich bin daher vermutlich nicht mal in der berechtigten Position mich immerzu in dem Maße darüber auszulassen und wiederholt auf manches einzulassen und dennoch: ich habe in all dem viel über mich herausgefunden. 

Ich glaube, dass die Liebe zu jemandem - und hier spreche ich bewusst nur von erwiderter, ohne Stolz zugegebener, gegenseitiger Liebe - den tiefen Impuls auslöst, ein besserer Mensch zu werden. An seinen Baustellen zu arbeiten. Seine Selbstsucht zu überwinden und ein besserer Mensch zu sein. Und diesen Anstoß, diesen intrinsischen Antrieb gibt uns so einzigartig nur die Liebe. 

Wir sollten ihn nutzen.

 

 

 

Teile dieses Textes entstammen dem Artikel "Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden" von Michael Nast, erschienen am 24. Juni 2015.

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