Manchmal, wenn ich mich mit Menschen unterhalte, die aus welchen Gründen auch immer bisher nicht in den Genuss gekommen sind, in meine leicht Patchwork-artigen Familienverhältnisse eingeführt worden zu sein, ertappe ich mich dabei, dass ich meine Worte extrem sorgfältig wähle. Wenn ich über meine Familie spreche, konkret über meinen jetzigen Papa, differenziere ich sehr klar zwischen meinem "biologischen Erzeuger" - ein Ausdruck, der im Übrigen gut und gerne aus einem Buch von Sarah Kuttner oder Charlotte Roche stammen könnte - und meinem jetzigen Vater, also Papa, dem Mann meiner Mutter, Alfons eben.
Mir ist hier nicht wichtig, die Historie der Trennung meiner leiblichen Eltern zu rekonstruieren oder wie wir dahin gekommen sind, wo meine Mutter, Alfons und ich heute stehen. Aber mir ist wichtig, zu belegen, warum Alfons jeden Tag lebendig beweist, dass die relative Dicke von Blut oder Wasser eben völlig irrelevant ist.
Der Satz Blut ist dicker als Wasser hat in meiner Sozialisierung nie eine besonders große Wichtigkeit zugemessen bekommen. Er ist darüber hinaus meines Erachtens im Hinblick auf die Entwicklung von Scheidungsraten und demographischem Wandel auch aus der Zeit gefallen. Die Verlässlichkeit des Blutes hat ab- und die Notwendigkeit des Wassers, Familienbande zu tragen, hat zugenommen, könnte man sagen. Ich habe früh erlebt, dass gemeinsame Gene kein automatischer Garant für liebevolles Miteinander, Verantwortungsbewusstsein oder bedingungslose Unterstützung sind. Nicht an mir selbst, aber beispielsweise an der Generation meiner Großeltern. An mir selbst erlebt habe ich es erst später.
Wie kann man nun erklären, wie jemand zu Familie wird, der es per DNA nicht ist? Warum ist es ungleich schwerer zu erläutern, was "ein echter Vater" ist gegenüber dem, was "eine echte Mutter" ist? Was ist überhaupt „eine echte Mutter“?
Meine Mutter und mich einte schon immer einiges, was wir mit ähnlicher Ausprägung verfolgten. In anderem dagegen unterscheiden wir uns bis heute sehr deutlich. Von meiner Mutter habe ich den Ehrgeiz, die Differenziertheit im Denken, das Durchhaltevermögen – den drive, wie man neudeutsch wahrscheinlich sagen würde. Von ihr habe ich auch die schlanken Unterschenkel und Schultern, den ein oder anderen Leberfleck und die einigermaßen schmalgliedrigen Hände.
Uns unterscheidet dagegen vor allem die Emotionalität, die wir anderen zeigen. Ich, ein sehr authentischer, offener, direkter Mensch, manchmal unfassbar nah am Wasser gebaut, feinfühlig, extrovertiert, mit einem Hang dazu, bisweilen zu laut zu lachen oder meinen schrägen, sarkastischen Humor kundzutun, mit einem Faible für Sprache und mit einer durchschnittlichen bis langsamen Geschwindigkeit, mich über Dinge aufzuregen. Meine Mutter dagegen turnt in beeindruckender, scheinbar schwereloser Manier dazwischen, den übernächsten beruflich strategischen Schritt zu evaluieren, mich überraschend fest zu umarmen, nach einem von mir vorgelesenen Blogtext mit Tränen der Rührung dazusitzen, über eine Verfehlung der Deutschen Post in einen (oft berechtigten) atomaren Tobsuchtsanfall auszubrechen oder mir seit gefühlter Ewigkeit das Konzept des „willst Du was gelten, dann mach’ Dich selten“ näherzubringen.
Meine Mutter hat mich zur Welt gebracht, war nie nicht in meinem Leben und hat nie einen Zweifel an ihrer Liebe zu mir und ihrem Stolz auf mich gelassen. Ich glaube, das ist eine Form davon, „eine echte Mutter“ zu sein.
Was aber ist nun „ein echter Vater"? Was kann er sein, wenn ich nicht meine Gene von ihm habe? Wo hört Biologie auf und wo fängt Verwandtschaft an?
Alfons war derjenige, der mich seit er meine Mutter kennt – und das sind jetzt auch 6-7 Jahre - so behandelt hat, als sei ich sein eigenes Kind. Es gab keine Versuche, sich einer möglichen, wenn auch zu Anfang nicht rechtlich legitimierten Verantwortlichkeit zu entwinden. Ich spürte früh, wie sehr er bei sich einen wenn nicht „Erziehungs-“, so zumindest doch „Prägungsauftrag“ für mich sah und wahrnahm. Er setzte sich selbst mit einer beeindruckenden Selbstverständlichkeit, doch ohne jegliches Drängen in die bis dahin verwaiste Vaterrolle, die mir in den für meine Prägung wichtigen Jahren als junge, erwachsene Frau so bitter gefehlt hatte. Er ließ mich umsonst in seiner Wohnung wohnen, als mir in meiner eigenen die Decke auf den Kopf fiel.
Mittlerweile ist Alfons einfach da, wenn ich nicht mit dem x-ten Problem auch noch zu meiner Mutter will - vor allem, wenn es sich um ein Männerproblem handelt. Er ist der, der wie ein unsichtbarer Geist alle neuen Lampen in meiner Wohnung angebracht hat, wenn ich nach einem Arbeitstag nach Hause komme und eigentlich bloße Glühbirnen von der Decke baumeln erwarte. Er ist übrigens auch der, der mir beibringt, dass es nicht „Glühbirne“, sondern „Leuchtmittel“ heißen muss.
Alfons ist enorm klug, auch wenn er sich selbst nie so einschätzen oder bezeichnen würde. Von ihm stammen Sätze wie "das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden" oder "es gibt nicht nur 'ne Handvoll, es gibt das ganze Land voll". Wenn ich manchmal nicht weiß, wie ich mich verhalten, was ich machen soll, kann ich mir sicher sein, dass er es weiß. Von Alfons habe ich mein erstes Mini-Werkzeugset bekommen - gleich zusammen mit Hammer, Nägeln und Zange. Er ist derjenige, der mich vor einem ersten Date anrufen würde und Dinge sagt wie "ich muss Dich doch noch briefen". Bei Alfons kann ich heulen, wenn mir danach ist - ohne erst nach dem Grund gefragt zu werden. Gerade hilft er mir dabei, meine Finanzen etwas zu strukturieren – etwas, dessen ich trotz Master in BWL und aufgrund eines denkbar schlechten, hedonistisch orientierten Umgangs mit Geld stark bedarf.
Er hat mir vor Kurzem mal erklärt, dass er alles tut, was er auf seinem Punkt kann, um mir zu helfen, glücklich zu werden. Wenn ich nun alles von meiner Seite aus täte, näherten sich die Kreise irgendwann an, schnitten sich, überlagerten sich, glichen sich. Das sei der Punkt, an den wir wollten.
Nun. Er tat und tut das alles, ohne etwas dafür zu erwarten. Es war seine stille und manchmal hörbare Unterstützung in den Jahren, die mich über Wasser hielt, auch wenn er oft im Hintergrund blieb. Anfangs habe ich ihn manchmal auf Distanz gehalten, weil ich a) nicht dachte, dass er jemand war, an dem ich mich festhalten würde können und b) weil ich entsetzliche Angst hatte verkraften zu müssen, dass nochmal ein Mann meine Mutter und mich verlässt.
Mittlerweile ist da keine Distanz mehr. Also: wie kann jemand zu einem echten Vater werden? Nun, indem er auf Sätze wie Il sangue non è acqua nichts gibt. Oder in dem er sich meinen zum Vorbild nimmt.
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