Alle wollen immer wachsen - Teil I

Ein Thema, das mich in letzter Zeit viel beschäftigt, ist Wachsen. Ich bin aktuell an einem Punkt in meinem eigenen Leben, aber auch wenn ich die Leben anderer meiner Alterskohorte betrachte, an dem es fast unausweichlich ist, mich damit auseinanderzusetzen und ich darf sagen: es ist gar nicht mal immer so angenehm.

     

 

Witzigerweise bin ich zu Beginn meiner Recherche dazu zunächst auf Ergebnisse gestoßen, die der Bedeutung, um die es mir in diesem Eintrag gehen soll, eher untergeordnete Priorität beimessen. In vorrangigem Sinne steht "Wachstum" nämlich für:

  • Markt-, Unternehmens- oder Wirtschaftswachstum sowie Expansion, 
  • biologisches oder anatomisches Wachstum (siehe auch Wuchs), 
  • Wachstum in der Mathematik oder
  • Städtewachstum (als Aspekt der Urbanisierung).

 

Alles harte, greifbare, zahlenorientierte Definitionen, die Synonyme für Wachstum dagegen machen das Verständnis zum Glück schon etwas weicher: Entfaltung, (gehoben) Blüte; Evolution; Anstieg, Ausbau, Ausbreitung, Ausdehnung, Erhöhung, Erweiterung, Hebung, Steigerung, Vergrößerung, Vermehrung, Vervielfachung,  Zuwachs; Potenzierung, Progression - sind aber alle immer noch nicht das, was mich aktuell umtreibt. Was ich nämlich meine, ist persönliche Weiterentwicklung, Neues lernen, emotionales Reifen, nächste Schritte im Leben gehen, Verantwortung übernehmen, solche Dinge - die eben schwerlich in prozentualer Zunahme abbildbar sind.

 

Wieso beschäftigt mich das also gerade so sehr? Nun ja. Es sind wie immer mehrere Faktoren, die aber ausnahmsweise mal sehr logisch nachvollziehen lassen, warum das Thema gerade jetzt so prominent in meinen Gedanken aufpoppt.

Zunächst mal ist es so, dass ich nun schon geraume Zeit, im Juni nämlich 2 Jahre, wieder in München und in meiner Wohnung in der schönen Au lebe. Und im Juli werden es 2 Jahre, die ich meinen Job als Produktmanager in einem Pharmaunternehmen mache. Das sind beides Konstanten, fast uneingeschränkt positive sogar, an denen sich (von wirklich überschaubaren Veränderungen mal abgesehen) nichts getan hat - was per se auch nicht negativ zu bewerten ist. Die Wohnung und der Job sind zwei Bereiche des Lebens, die elementare Wichtigkeit für jeden von uns haben, zusammengenommen verbringen wir in und mit ihnen wahrscheinlich 85% unserer Zeit. Beide sind ein klassisches Beispiel von perfekt gibt es nicht, aber mit dem ein oder anderen Kompromiss ist gut gut genug, um sie zu behalten. Mit den beiden bin ich also die meiste Zeit zufrieden - das eine gibt mir ein Gefühl von Zuhause, das andere zunehmende Expertise, Erfahrung und Reputation. Und trotzdem: es ist gewissermaßen ein Stillstand - und Stillstand ist Rückschritt, oder?

 

Vor 2 Wochen hatte ich mit einer sehr guten Freundin mehrere Gespräche zu meinen Gedanken dazu und auch darüber, in welcher Lage sie sich befindet. Wir haben zusammen studiert, sie lebt in Frankfurt, hat einen guten Job, eine bezahlbare, zentrale Wohnung und ist objektiv betrachtet ähnlich gut situiert, sie hat einen intakten Freundeskreis und erfüllende Hobbies. Und auch sie fragt sich, was fehlt, wie es weitergeht - woran sie wachsen kann. Als wir so darüber sprachen, wurde uns beiden bewusst, dass wir tatsächlich in einer Phase unseres Lebens angekommen sind, in der wir nicht mehr wie bescheuert in recht kurzen Intervallen auf irgendwas hinarbeiten, was das nächste Ziel in Form einer Klausurenphase, eines Praktikums, der Bewerbung dafür, des nächsten Auslandssemesters, des nächsten Umzuges dafür, der nächsten Masterarbeit darstellt. 

Unbenommen, unsere Herausforderungen mögen andere und nicht eben einfachere sein, aber sie sind vergleichsweise weniger disruptiv, wesentlich langfristiger und wir bekommen sie nicht von einem Curriculum diktiert, sondern entscheiden uns selbst für sie bzw. müssen uns selbst für sie entscheiden. Und wir können uns hier vergleichen, denn in unser beider Leben (und in dem von noch so ca. 6-7 weiteren mir nahe stehenden Menschen) war das eben über ein paar Jahre hinweg ein ähnlich abwechslungsreiches, chaotisches und kompetitives Dasein. Und diese Darstellung - das ist mir wichtig - will sich nicht mit anderen lineareren Lebensläufen vergleichen, aber 10-15 Umzüge in 6 Jahren mit bis zu halbjährlichen Aufenthalten in bis zu 4 neuen Ländern außerhalb Deutschlands bis zum Alter von 25 verhindert eben Stillstand und fordert Wachstum. "Man arbeitet immer auf etwas hin und kaum bist Du da angekommen, musst Du schon überlegen, was Du für das Nächste machen musst - Du kommst gar nicht mehr zur Ruhe oder zum Überlegen und diese von außen vorgegebene Taktung fehlt jetzt einfach", hatte sie abschließend gesagt und ich glaube, damit hat sie sehr recht.

 

Wir befinden uns also in einer Phase, in der wir einen sicheren guten Job haben, halbwegs gesettelt sind, uns (zumindest für diese Phase) für eine Stadt, für einen Freundeskreis, für tägliche Routinen entschieden zu haben scheinen. Und ich? Naja. Ich wachse nicht, zumindest habe ich nicht mehr das Gefühl. Während man in den ersten Monaten in einem neuen Job und/oder einer neuen Branche eine relativ steile Lernkurve spürt, die sich nicht unselten wie Überforderung anfühlen wird, flacht diese mit der Zeit natürlicherweise ab. Tasks werden repetetiv, Wissen wird mehr, Prozesse bekannt und Präsentationen vor vielen oder wichtigen Menschen weniger furchteinflößend. Ich habe das erkannt, weil mir weniger der Dinge, die ich lese oder höre neu oder ein Zuwachs an Wissen sind, weil mich weniger zwingt, darüber tiefergehend nachzudenken und weil mich die vor mir liegenden, täglichen Aufgaben mehr und mehr langweilen. Ich habe mit meinem Chef persönliche Entwicklungsfelder identifiziert und arbeite mit einem Coach an meiner Seniorität, ein Buzzword zugegeben, aber leider ein für mich wichtiges (und an meinem manchmal zu wenig ausgeprägten Pokerface).  Ich habe außerdem um ein wirklich mal herausforderndes Projekt gebeten und das habe ich in Form eines komplexen Kalkulationsmodels zum Finanzforecast auch bekommen. Wo ich mich reinfuchsen muss, woran ich vermutlich vorübergehend verzweifeln und worüber ich fluchen werde, wird mich wachsen lassen, so meine Hoffnung.

 

Was mache ich noch? Ich spiele immer mal wieder mit dem Gedanken umzuziehen, also innerhalb Münchens und auch nur in einem gewissen Radius. Nachdem ich aber neulich eine Wohnung im Blick hatte, wurde mir bewusst, dass ich nur umziehe, wenn es eine eklatante Verbesserung im Sinne eines Balkons und einer Badewanne umfasst und wenn mein Bauch mir sagt "Tu es". Achso. Oder wenn ich in den nächsten Jahren doch mit jemandem zusammenziehen sollte. Und bis dahin werde ich Abwechslung herbeiführen, indem ich meine Einrichtung ein wenig umgestalte - Ideen habe ich schon ein paar.

 

Zu guter letzt der Bereich Beziehungen, Partnerschaft und Liebe (und das zu erwähnen macht Sinn, wenn ich darauf schaue, wo andere da stehen), ich lebe nämlich in einem nicht ganz eindeutig zu definierenden Beziehungsstand. Also objektiv ist es ledig, Single, keine Kinder, aber subjektiv ist das Single so glasklar schon nicht mehr. Wir, also dieser Mann und ich, treffen uns, tuen Dinge, die Paare tun, aber wir sind keines. Wir schlafen mit niemand anderem (etwas was man gemeinhin als „Exklusivität“ bezeichnet), wir lassen den anderen zu einem gewissen Grad an unseren Gedanken und Gefühlen teilhaben. Wir unterhalten uns über die Zukunft, aber nicht unbedingt darüber, wie wir sie gemeinsam gestalten würden. Unser Weg bis hierher war nicht ganz frei von Hindernissen und Herausforderungen - wer, wenn nicht Ihr und Sie hat das anhand all der Texte im letzten und Anfang diesen Jahres mitverfolgen dürfen - und mir bedeuten, das was wir haben und dieser Mann sehr viel - auch wenn es in keine Definition passt. Am ehesten ist es vielleicht noch Mingle, aber das spielt im Grunde auch keine Rolle. 

Linearität des Zusammenfindens und bis dahin vergangene Zeit sind kein Gradmesser für Liebe oder Zuneigung, das habe ich ihm neulich so ähnlich gesagt - und gesellschaftlich vordefinierte Kategorien von partnerschaftlichem Zusammensein sind es eben auch nicht. Nicht unbedingt.

 

Yeah sex is cool but have you ever received emotional support from a like minded individual who wants to be a part of your growth and development?

 

 

 

 

 

>> To be continued >> Teil 2 coming soon

 

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Pia (Donnerstag, 31 Mai 2018 14:03)

    "Linearität des Zusammenfindens und bis dahin vergangene Zeit sind kein Gradmesser für Liebe oder Zuneigung."
    So wahr <3

  • #2

    Christiane (Dienstag, 05 Juni 2018 21:56)

    Schon allein, weil du über das Thema Wachstum so intensiv nachdenkst, wächst du ;-) Ich freu mich schon drauf, Teil 2 zu lesen!