Ich bin nicht intolerant, Du bist ein Nazi!

Ich bin kein politischer Mensch, zumindest war ich es in der Vergangenheit nicht oder hätte mich bisher nicht als solchen bezeichnet. Ich gehe wählen, ich habe eine Meinung zu den meisten gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit, auf die es eigentlich die primäre Aufgabe von Politikern ist, Antworten zu finden – eben genau, weil wir sie dazu auf demokratischem Weg gewählt haben. Ich schaue mir Talkshows an und schüttele den Kopf, wie das ein oder andere so sein kann wie es ist oder weil ich einfach nicht finde, dass man das „ja wohl noch sagen dürfen wird“. Mittlerweile bin ich sogar in der Lage, die Fragen eines Wahl-O-Mats differenziert genug zu beantworten, um ein parteipolitisches Stimmungsbild von mir selbst wiederzugeben, was modellhaft für meine Standpunkte in der Realität ist. Aber ich habe mich nie politisch engagiert, war nie Mitglied einer Partei, war nie auf einer Demo und habe mich nie als Individuum dafür eingesetzt, dass meine Anliegen Wirklichkeit oder - aus meiner Perspektive als solche eingeschätzte - Fehlentwicklungen verhindert würden.
In den letzten Wochen und Monaten jedoch manifestiert sich in mir der Gedanke, etwas tun zu wollen gegen eine Tendenz, die sich erschreckend schnell, in meines Erachtens schon zu lange zu vielen Wählerköpfen in einem Land ausbreitet, welches sich bestimmte Ideologien, Rhetoriken und Tatsächlichkeiten einfach kein zweites Mal leisten könnte. Leisten darf. Was genau bei mir den Schalter umgelegt hat, weiß ich nicht. 
Ob es die Vorstellung war, mich bei einem möglichen Besuch in Chemnitz in meinem eigenen Land unsicher und fremd zu fühlen. 
Ob es Wahlplakate einer Partei sind, bei deren Kampfparolen mir schlecht wird. 
Ob es Politiker derselben Partei sind, mit denen a) nicht zu diskutieren ist, weil sie sich regelmäßig durch Flucht der Diskussion entziehen oder weil ihre verquere politische Haltung nach außen so glatt und in ihrer Falschheit selbst so schlüssig zu sein scheint, dass man b) an ihr abgleiten muss. 
Ob es die Äußerungen von so vielen Menschen sind, die darauf vertrauen, dass sich die Brisanz der Problematik auf die mittlerweile nicht mehr wenigen Mitglieder einer mittlerweile nicht mehr am Rande der Gesellschaft befindlichen Partei und ein einziges, hochkochendes Brennpunktthema reduzieren lässt und dabei verdrängen, dass wir diesen Rahmen längst verlassen haben. 
Am wahrscheinlichsten jedoch ist es ein Satz, den ich vor kurzem gelesen habe und der mich seitdem nicht mehr loslässt:
1933 hätte 1928 verhindert werden müssen.
Meine Generation und ich und selbst in Teilen die Generation unserer Eltern lebt in dem Luxus, nie erfahren zu haben, was ein Krieg ist. Wir kennen keinen Weltkrieg, keinen Glaubens- oder Handelskrieg und auch einen Bürgerkrieg eigentlich nur aus den Nachrichten. Wir leben im Luxus einer für selbstverständlich gehaltenen Demokratie, eines Grundgesetzes, für das Menschen, die Jahrzehnte vor uns gelebt haben, die Erfahrung von ein oder zwei Weltkriegen erst mal haben machen müssen. Wir leben im Luxus einer selbstverständlichen Arroganz, deren Leitsatz ist, dass uns das damals nicht passiert wäre, dass wir etwas dagegen gemacht hätten, dass wir nicht mit angesehen hätten, wie Anhänger oder Ausführer einer Ideologie Millionen Menschen ermordet und gleich mehrere Länder in einen Krieg gestürzt haben, der noch mehr Leben kostete.  Wir leben in der angewöhnten Bequemlichkeit, dass sich um die Probleme in der Welt jemand anderes kümmert und das ist nicht faul oder uninteressiert, es ist eine bewusste Entscheidung. Diese wiederum können wir uns nur leisten, weil es andere Menschen gibt, die etwas gegen verhungernde Kinder, Müttersterblichkeit, globale Erwärmung und Klimawandel oder das Aussterben bedrohter Arten tun und uns unser Gewissen von der Pflicht entbindet, den Planeten auf dem wir leben entgegen unseres Egoismus zu schützen und nicht seine Zerstörung zu beschleunigen. Der Mensch ist vermutlich das einzige Tier, das sehenden Auges an dem Ast sägt, auf dem es sitzt und das dann auch noch verdrängt.
Ich halte prinzipiell nichts von Schwarzmalerei, nichts von Panikmache oder Aktionismus. Ich glaube stattdessen, dass sich viele Probleme oft von selbst nivellieren oder sogar lösen. Nur leider weiß man das bei manchen Problemen nicht vorher und manche Konsequenzen solcher Probleme sind zu verheerend, als dass wir dieses Risiko immer eingehen könnten.
Ich wurde so erzogen, dass Toleranz einer der wichtigsten Werte ist, mit denen wir durchs Leben gehen sollten. Ich muss nicht jeden gut finden, ich muss mich auch nicht mit jedem auseinandersetzen, aber ich muss andere in ihrer Andersartigkeit belassen. Genau diesen Satz hat meine Mutter immer gesagt und genau das ist Toleranz.
Aber wie sehr vieles hat auch Toleranz Grenzen. Und die liegen sehr deutlich am Gesetz, an unserer Rechtsstaatlichkeit, dort wo sich Verfassungsfeindlichkeit ansiedelt und oder oder andere, uns wichtige Werte berührt werden. Ab dort muss man nicht mehr tolerant sein, mehr noch man sollte es nicht mehr. 
Von einer Politikerin wurde vor einigen Monaten ausgerufen, die politische Korrektheit gehöre "auf den Müllhaufen der Geschichte". Politische Korrektheit aber ist kein Selbstzweck, sie sorgt dafür, dass wir uns in unserer Sprache zumindest grob am in unserer Kultur vorherrschenden Wertesystem orientieren, dass ein sich selbst enttarnender Mechanismus sofort deutlich macht, was objektiv falsch oder unmoralisch ist. In manchen Fällen ist sie ein Korsett, aber in vielen anderen hilft sie uns. Wenn wir aber damit beginnen, unsere Sprache verrohen zu lassen, auf den Müllhaufen zu werfen, wie wir miteinander umgehen wollen, werden wir damit enden, unsere Werte gegen Parolen einzutauschen, die behaupten eine Lösung oder Alternative für Deutschland zu sein, die aber in Wirklichkeit keine Alternative sind.
Und jetzt frage ich mich was ich tun soll.
Ich frage mich, was ich tun soll, denn nichts tun ist keine Option. 
Ich frage mich, was ich tun soll, denn ich will mir nicht irgendwann vorwerfen müssen, nichts getan zu haben.
Ich frage mich, was ich tun soll, denn ich will etwas tun.
Und jetzt frage ich mich, was ich tun soll. Muss. Will. Werde. 
Nike von ThisIsJanewayne schreibt übrigens hier über dasselbe Thema.