Für L.
Ich würde so gerne den Schmerz von Dir nehmen. Wenn ich könnte, würde ich den Schmerz für Dich ertragen, jeden Teil davon, ich würde jede Träne für Dich weinen, jeden brennenden Muskel für Dich erspüren, jeden Schlag Deines immer noch brechenden Herzens durchatmen. Und wenn nicht der komplette Schmerz geht, dann würde ich auch nur einen Teil machen. Ich würde von Dir nehmen, was ich kann, ich würde so gerne mehr tun als immer wieder zu sagen „es wird besser, vertrau mir, es wird irgendwann besser werden“.
Wenn ich in Deine Augen schaue, sehe ich so viel an unverstandener Emotion, an Zurückweisung, an nicht genug gewollt werden, an Verletzung – exakt so viel wie auch ich schon gespürt habe, exakt so viel wie in uns verbleibt, wenn jemand anderes unser Zweisein ohne Diskussion vom Tisch fegt. Wenn ich Deine Hand nehme, spüre ich wie sie ruhig in meiner liegt, wie sie meine wärmt und festhält und doch gleichzeitig mit den Fingern unruhig tastend mit jeder Körperzelle nach Erklärung lechzt. Was das Patentrezept sei, willst Du von mir wissen, ich hätte doch so was schon so oft durchlebt. „Zeit“ sage ich und so sehr ich weiß, dass ich Recht habe, so sehr befriedigt mich meine eigene so dermaßen altkluge Antwort nicht, so sehr würde ich gerne sagen, dass es noch etwas anderes gibt, was Du tun kannst. Und das andere, was Du tun kannst, ist Ablenkung und Konfrontation und darüber reden – und all das trägt Dich doch wieder nur über besagte Zeit, die sich gnadenlos nicht beschleunigen, die Deinen Schmerz erst nach der vermeintlich vordefinierten Menge an durchschnittlich 200.000 Minuten endgültig verschwinden lässt.
Ich würde Dich so gerne auf eine liebevolle Weise zwingen, genau jetzt daran zu glauben, wie wichtig Liebe ist, wie richtig es ist, sich verletzlich zu machen, sich vertrauensvoll und immer wieder in jemandes Arme zu werfen – in der trotzigen Gewissheit, dass der so banal als „Liebeskummer“ bezeichnete, in Wirklichkeit aber existenzielle Schmerz so sicher folgt wie der Abend auf den Tag. Unsere Generation lebt in Zeiten der seriellen Monogamie, das werde ich nicht müde zu vertreten, wenngleich jeder in jeder Beziehung in dem unerschütterlichen Glauben lebt, dass diese für immer sei. So oft zeigt die Realität dann aber das „für immer“ auch nur „jetzt bis später“ ist – ein Gedanke, der mich immer mal wieder ohne konkreten Anlass ein bisschen trauern lässt.
Wenn ich heute in Dein Gesicht schaue, wünsche ich mir so sehr für Dich, dass Du Dich nicht fürchtest vor Nähe, vor Verletzbarkeit, vor Enttäuschung, vor Schmerz und Zurückweisung. Ich wünsche mir für Dich, dass Du mutig und frei und Dir selbst treu durch diese Welt gehst und nicht dem falschen Schluss erliegst, das Alleinsein der bessere Weg sei. Zweifelsohne, es ist der Weg, der Dich vor der Zurückweisung schützt, aber was ist das für ein Leben in Feigheit, Alleinsein und ohne Vertrautheit, Intimität, lieben und geliebt werden? Mir fällt ein Zitat ein, ich habe oft auf eine passende Gelegenheit gewartet, es anzuführen:
All our troubles, says somebody wise, come upon us because we cannot be alone.
And that is all very well. We must all be able to be alone, otherwise we are just victims.
But when we are able to be alone, then we realise that the only thing to do is
to start a new relationship with another - or even the same - human being.
That people should all be stuck up apart, like so many telegraph-poles, is nonsense.
D. H. Lawrence
Und bis dahin werde ich bei Dir sitzen, Deine Hand halten, Deine Ablenkung und Dein Rat sein, Dich tröstend in der Gewissheit, dass könnte ich Dir Deinen Schmerz abnehmen, ich keine Sekunde zögerte. Wer die absolute Gewissheit hat, dass es irgendwann endet, erträgt fast alles.
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