Nach gut 1 ½ Jahren wage ich mich mal wieder an einen politischen, an einen ethischen Text, der – ich möchte es betonen – meine eigene, persönliche Meinung zum Thema Organspende und zum jüngsten Gesetzesentwurf zur sog. „Doppelten Widerspruchslösung“ darstellt. Jeder hat das Recht, den Sachverhalt anders zu sehen, einen anderen Standpunkt zu vertreten, das hier ist meiner. Die von mir herangezogenen Quellen finden sich am Ende des Textes.
Mitte Januar, am 16.01.2020 gegen 11.45 Uhr, hat der Deutsche Bundestag entschieden, dass er mir nicht zumuten kann, wenigstens ein einziges Mal in meinem Leben eine persönliche Entscheidung zur Organspende treffen zu müssen. Damit mag er meine vermeintliche „persönliche Freiheit“ gestärkt haben, gleichzeitig aber hat er die Hoffnung tausender Menschen auf Leben (aktuell stehen 9.500 Menschen in Deutschland auf der Warteliste für ein Organ) pulverisiert. Für mich ist vieles an dieser Entscheidung nicht nachvollziehbar, teilweise unfassbar scheinheilig und es macht mich wütend – obgleich ich nicht mal betroffen bin und ich meine Haltung dazu im letzten Jahr selbst fundamental geändert habe. Was daran ist für mich nicht nachvollziehbar?
Zunächst mal begreife ich nicht, wieso eine Institution, die mir bereits im Rahmen der Sterbehilfe-Debatte die persönliche Freiheit genommen hat, mir verboten hat, im Ernstfall selbst über mein Leben entscheiden zu dürfen, sich nun damit brüstet, mich davor zu schützen, über den Körper nach meinem Leben entscheiden zu müssen. Beidem wohnt der zutiefst menschliche Wunsch nach „wählen dürfen“ inne, darüber selbst verfügen zu können, was mit meinem Körper, der mir und nur mir gehört, passiert. Mich erinnert der letzte Satz an das Thema Abtreibung, präziser „Schwangerschaftsabbruch“, der in Deutschland grundsätzlich immer noch eine Straftat ist und um den noch immer so viel schockierende Gesetzgebung und rückschrittliche Ansichtsweisen fixiert sind, dass die Debatte §219a in den letzten Jahren einen ganz eigenen Blogtext hier verdiente. Bevor ich mich aber jetzt schon wieder nur aufrege, zurück zum eigentlichen Thema Organspende. Was noch ist für mich nicht nachvollziehbar?
2018 gab es bundesweit 955 Organspender*innen (Anstieg vs. Vorjahr), die positive Einstellung der Menschen in Deutschland gegenüber einer Organ- und Gewebespende ist so hoch wie nie und die Zahl der Personen, die einen Organspendeausweis besitzen, ist ebenfalls in den letzten Jahren gestiegen. Und trotzdem können wir es von der deutschen Bevölkerung nicht verlangen, eine individuelle Entscheidung zu treffen und diese zu verbalisieren respektive zu dokumentieren? Seriously??!
Um es deutlich zu machen: ich vertrete nicht die Meinung, dass jede*r bereit sein muss, ein Organ zu spenden, dass nur das das ethisch korrekte Verhalten sei. Aber ich vertrete die Meinung, dass man als mündiger Mensch in der Lage sein muss, ja sein wollen müsste, eine Entscheidung - sei sie dafür oder dagegen – zu treffen.
Bevor ich versuche, meinen Unmut weiter auszuführen, vielleicht noch mal ein kurzer Überblick, worum es überhaupt geht und welche einigermaßen objektiven Argumente für bzw. gegen die sog. Doppelte Widerspruchslösung sprechen:
Worum geht es?
Die Kernidee der neuen Gesetzgebung, initiiert von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), wäre gewesen, dass prinzipiell erstmal – per Default sozusagen – jede*r Organspender*in sein soll. Nur wer im Laufe des Lebens aktiv widerspricht, oder wenn Angehörige betonen, dass die Person die Organe nicht spenden wollte, werden sie nach dem Tod nicht entnommen. So sollen mehr Bürger zu einer aktiven Entscheidung „gezwungen“ werden.
Diesen Vorschlag hat der Bundestag nun abgelehnt, 292 Abgeordnete stimmten für die Widerspruchslösung gestimmt, 397 dagegen.
Was hätte FÜR die doppelte Widerspruchslösung gesprochen?
1. Mehr Organspender
Sie ist (laut Befürwortern) die einzig realistische Chance, zu mehr Organspender*innen in Deutschland zu kommen. Spahn hatte eingeräumt, dass sie einen Eingriff in die Freiheit des Einzelnen bedeute – welcher in der Abwägung mit dem Recht auf Leben, aber zurückstehen müsse. Darüber hinaus sei die jetzige Regelung dafür verantwortlich, dass in Kliniken die „Nicht-Spende quasi der Normalzustand“ sei und möglichen Organspenden nicht konsequent genug nachgegangen werde.
2. Die meisten Deutschen sind für Organspende
Laut einer aktuellen Umfrage sind 84% der Deutschen der Organspende gegenüber positiv eingestellt, aber nur 36% haben auch einen Organspendeausweis. Die doppelte Widerspruchslösung griffe die Stimmung in der Bevölkerung am besten auf: wenn die Mehrheit der Deutschen dafür ist, mache es mehr Sinn, dass nur diejenigen, die keine Organspender werden wollen, widersprechen müssen.
3. Es ist moralisch richtig
Unter anderem für SPD-Bundestagsabgeordneten Karl Lauterbach wäre die neue Regelung moralisch vertretbar. Nach Kant müsse man das, was man von anderen erwarte, auch selber tun. Jeder würde ein Organ nehmen, wenn er es brauchte, aber im Gegenzug nicht bereit sein eines zu geben? Das kann nicht sein.
4. Angehörige würden entlastet
Aktuell müssen Angehörige über die Organspende entscheiden, wenn der Wille des Patienten nicht bekannt ist, für viele aus nachvollziehbaren Gründen eine Überforderung kurz nach der Nachricht des Versterbens. Viele Ablehnungen erfolgen aus verständlicher Unsicherheit heraus und nicht aus der Überzeugung, dass der Verstorbene eine Organspende nicht gewollt hat. Die doppelte Widerspruchslösung sieht deshalb vor, die Angehörigen zwar nach dem Wunsch des Verstorbenen zu fragen, ihnen die Entscheidung aber nicht zu überlassen.
Was hätte GEGEN die doppelte Widerspruchslösung gesprochen?
1. Eingriff in die menschliche Würde und staatlicher Zwang
Für Kirchen ist sie der „staatliche Zugriff auf den menschlichen Körper“, für manche Abgeordnete sei sie ein Eingriff in die Selbstbestimmung des Einzelnen. Kritiker sprechen häufig vom „Zwang zur Organspende“, eine so tiefgreifende Entscheidung sollte dagegen freiwillig und bewusst getroffen werden. Tatsächlich würde man allerdings nicht zur Organspende, sondern zu einer Entscheidung dafür oder dagegen gezwungen – ein fundamentaler Unterschied.
2. Schweigen ist keine Zustimmung
Nach dem deutschen Rechtsverständnis ist Schweigen weder Zustimmung noch Ablehnung, es gilt als neutral und stellt keine Willenserklärung dar. Auch aus ethischer Perspektive sei die Widerspruchslösung ein „gefährlicher Paradigmenwechsel“, weil die aktive Einwilligung eines informierten Patienten einfach umgangen würde.
3. Angehörige werden übergangen
Im Gegensatz zur Entlastung der Angehörigen, kann man argumentieren, dass Angehörige nicht mehr in die Entscheidung mit einbezogen würden - was voraussetzt, dass sie diese direkt nach dem Tod des Verwandten treffen wollen, was wiederum in vielen Fällen in der akuten Trauerphase eher als Überforderung wahrgenommen wird als als Einbeziehung.
4. Kein Garant für mehr Spender
In vielen europäischen Ländern gilt eine Form der Widerspruchslösung, in Spanien, Belgien oder Kroatien gibt es gleichzeitig eine hohe Anzahl an Organspendern. Allerdings ist es nicht immer die Widerspruchslösung, die automatisch zu mehr Organspendern führt. In Spanien z.B. ist die Organspende Teil des Nationalstolzes und die Abläufe in Kliniken sind deutlich besser auf die Organspende abgestimmt. Darüber hinaus dürfen in Spanien Organe schon nach dem Herz-Kreislauf-Tod entnommen werden, in Deutschland erst nach dem Hirntod.
Unterm Strich all dieser Argumente: ich bin enttäuscht. Enttäuscht, weil diese Entscheidung viel weniger zur Erhaltung der Persönlichkeitsrechte beiträgt als dass sie begünstigt, dass weiterhin alle 8 Stunden in Deutschland ein Mensch stirbt, für den es kein passendes Spenderorgan gibt oder vielmehr für den es zur größeren Wahrscheinlichkeit eines gäbe, hätte der potentielle Spender seinen Wunsch dokumentiert. Enttäuscht, weil es vor allem so ein „deutsches“ Problem zu sein scheint, den Fortschritt und die Veränderung lieber abzulehnen, nur weil eine Regelung (noch) nicht perfekt ist oder minimale Risiken birgt. Enttäuscht, denn die Ablehnung des Gesetzesentwurfs basiert auf der Betrachtung der deutschen Bevölkerung als unmündig, als unfähig, lethargisch oder undifferenziert, als unwillig eine einmalige Entscheidung über den eigenen Körper zu treffen, deren Konsequenz wir nicht mal mehr mitbekommen. Enttäuscht zu einem ganz kleinen Teil auch, weil unter anderem die Grünen, denen ich letztes Jahr beigetreten bin, im Bundestag dagegen gesprochen und votiert haben. Enttäuscht, weil ich mich im vergangenen Jahr selbst so massiv bewegt habe - davon, keines meiner Organe im Ernstfall zu spenden hin zu alle meine Organe außer meinem Gehirn zu spenden. So hochethisch dieses Thema ist, so sehr habe ich persönlich entschieden, dass meine emotionale, in Teilen vielleicht „spirituelle“ Haltung, nach dem Tod „ganz“ bleiben zu wollen weder rational zu verargumentieren noch in vertretbarem Maße egoistisch ist. Wenn ich zu Lebzeiten die Chance hätte, ein oder mehrere Leben zu retten, würde ich es tun. Wenn ich es selbst nach meinem Tod noch könnte, umso mehr.
Links:
LinkedIn-Post eines Kollegen, der den Ausschlag gegeben hat, diesen Text zu schreiben
Hamburger Experten bedauern Organspende-Beschluss (Welt, 16.01.2020)
Informationsseite zur Organspende der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
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Elisabeth (Sonntag, 26 Januar 2020 23:36)
Ich unterschreibe jedes Wort von dir. Danke, dass du dich dazu äußerst ❤️