Corona Brain

 

Gab es ein Leben vor diesem hier? Eines, in dem man alles machen konnte, in dem alles vermeintlich normal war? Ein Leben vor der „aktuellen Situation“? Falls es das gab, fühlt es sich so weit weg an, als läge eine lange Zeit, ein eigenes Leben, dazwischen. Mindestens 10 Jahre, so fühlt es sich an. So dass man mit seinen Gedanken nur noch in einem Nebel für wahr gehaltener Erinnerung stochert, begleitet von der ständigen bangen Mutmaßung, was davon diese „neue Normalität“ werden wird, von der immer alle reden.

 

Manche Menschen schreiben, man werde in dieser Situation immer mehr man selber. Ich bin nicht nur erinnerungsschwach, ich bin auch leichter zu verärgern. Vielleicht entsprechen Amnesie und Jähzorn ja meinem wahren Ich, ich hoffe stark dagegen.

 

Was andere irritiert, empört mich nämlich mit einer Wucht, die ich nicht von mir kenne.

Wie kann es sein, dass wir es schaffen, 80.000 Erntehelfer ins Land zu bringen, damit der beschissene Spargel nicht verrottet, aber 50 Flüchtlingskinder überfordern uns?

Wie kann es sein, dass eine Institution, nach deren sorgfältiger Analyse im Jahr 2016, 1300 unserer 1600 Krankenhäuser mehr oder weniger überflüssig gewesen seien, nun Empfehlungen dazu aussprechen darf, in welchen Schritten Öffnungsperspektiven umgesetzt werden können?

Wie kann es sein, dass das Maß aller Dinge die Zahl der Neuinfektionen ist, wenn die eigentlich limitierte Ressource sich nur um die Zahl der neuen schweren Krankheitsverläufe sorgen sollte?

Wie kann es sein, dass wir unsere Wirtschaft und Psyche so sehr zerstören, dass wir nach all dem ein vielleicht gesundheitlich minimal sicheres, dafür aber gesellschaftlich mutmaßlich desaströses Leben führen? 

Wie kann es sein, dass diese Idioten immer noch keine beschissenen 1,5 Sicherheitsabstand halten und sich an mir vorbeiquetschen als hätte all das nichts, aber auch gar nichts mit ihnen zu tun?

Wie kann es sein, dass im Haus gegenüber eine Party gefeiert wird und ich ganz ernsthaft mit dem Gedanken spiele, die Polizei zu holen, um meine lieben Party-Nachbarn zu denunzieren?

Wie kann es sein, dass meine über 60jährigen Eltern uns unangekündigt zu Ostern besuchen, uns ihre Umarmungen aufzwingen, gerade so als hätten sie nichts von all dem verstanden?

 

 

Ich weiß, dass ich auch deswegen nachts wach liege, weil mich nichts mehr ausreichend erschöpft. Ich bin zum Beispiel nicht so erschöpft wie Eltern, die ihre Kinder zuhause haben. Kinder müssen beschäftigt werden, sonst eskalieren sie, sonst brennt die Luft, so viel kann ich mir vorstellen. 

 

Ich weiß, dass das Soziale ein Muskel ist, der vor allem bei mir schnell erschlafft. Ich habe Sprachnachrichten auf meinem Handy, die 3 Wochen alt sind, die ich bis heute nicht abhören konnte. Ich war nie ein großer Telefonierer, eine Tatsache, die mich jetzt unvermeidlich einholt.

 

Ich weiß, dass wir die Grundlagen eines funktionierenden Lebens haben: Elektrizität, Kanalisation, Internet, Lebensmittelversorgung – und doch fühlt sich unser Dasein hinreichend beschnitten an.

 

Ich weiß, dass ich nur nicht ausraste, weil ich mich jeden Tag mit mind. 8 Folgen irgendeiner Serie betäube, weil ich jeden Tag online shoppe, weil ich mir jeden Tag um spätestens 16 Uhr den ersten Drink mache und weil wir in 2 Wochen einen Hund kriegen. Die Perspektive auf tägliche Paketlieferungen und einen Welpen besänftigten jeden. „Was würdest Du denn bitte machen, wenn Du ausrastest? So viel bleibt Dir ja nicht.“ „Ich würde vielleicht einen Streit mit Dir anfangen, rein aus Langeweile, einfach weil ich’s kann?“ Auch wenn ich natürlich weiß, dass das beziehungsmäßig ziemlich arschig wäre. Und nicht besonders klug.

 

Ich weiß, dass man den Tag strukturieren soll, das sagen einem ja alle Experten. Aber keiner schnallt, dass es keine Arbeit und Struktur gibt, dass es einfach nur darum geht, egal wie, egal womit, die Zeit rumzubringen, den Tag rumzubringen, ohne auszuflippen wegen der Stupidität des Ganzen. Bevor noch ein Tag kommt, der genauso ist wie dieser, und dann noch einer und noch einer und noch einer bis irgendwann wohin wir noch nicht sehen können.

Bis zu dieser „neuen Normalität“, von der immer alle reden.

 

 

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