Was bedeutet einem ein Job?

 

Der/die ein/e oder andere wird mitbekommen haben, dass ich entschieden habe, meinen Konzern-Job im März zu verlassen und mir dieses Jahr eine kleine Auszeit zu nehmen. Der Begriff "Auszeit" trifft es wahrscheinlich am ehesten, denn es war weder ein Sabbatical (unbezahlter Sonderurlaub in einem bestehenden Anstellungsverhältnis) noch war es ein Gap Year (wird meist zwischen 2 Lebensabschnitten, z.B. nach Abitur und vor Studium, genommen). Ich konnte mich zu dieser Auszeit aufgrund einer Umstrukturierung meines ehemaligen Unternehmens entscheiden, vor allem konnte ich es durch einen, den Umständen geschuldeten, großzügigen Auflösungsvertrag so tun, dass ich nur minimale finanzielle Einbußen mein Gehalt betreffend hatte – ein sehr bequemes Modell also. Solche Chancen kommen nicht ständig, für die meisten Menschen kommen sie nie, und manchmal muss man einfach auch mal "Ja" sagen, wenn das Leben schon fragt.

Wenn man aus einem Vollzeitjob kommt, ist die Vorstellung davon, was es bedeutet, plötzlich nicht mehr lohnzuarbeiten, eine Theoretische. Was es tatsächlich bedeutet und mit einem macht, vor allem in einem Jahr der Pandemie, was einem fehlt und was man wertzuschätzen beginnt, habe ich über die letzten 9 Monate beobachtet. 

 

 

Lohnarbeit ist ein Teil der eigenen Identität, Care-Arbeit ist es (für mich) nicht

Um eine mögliche Frage vorweg zu nehmen: Care-Arbeit, auch Sorge- oder Reproduktionsarbeit, ist ein in den 1990er Jahren entstandener Begriff, der an feministische Theorien anknüpft und unbezahlte Arbeit bezeichnet, die zu Hause verrichtet wird: Waschen, Putzen, Kochen, Bügeln, Erziehung von Kindern, Pflege von Älteren. Dass Care-Arbeit Arbeit ist, wird häufig belächelt, vornehmlich von denjenigen, die sie nicht tun (müssen), weil es ihre Ehefrau für sie macht oder sie so gut verdienen, dass sie Haushaltshilfen und Aufsichtspersonen für Kinder dafür bezahlen können. Zugegeben: auch ich unterscheide beide Arten von Arbeit, Lohn- und Care-, erst seit diesem Jahr auch verbal und explicit – eine wertvolle Unterscheidung, wie ich finde.

An mir selbst ist mir jedoch aufgefallen: während ich meine bisherige Position in der Lohnarbeit als einen Teil meiner eigenen Identität betrachtete, gelingt mir das bei Care-Arbeit zuhause nicht. 

Man nehme mal nur den Aspekt der Bestätigung: wenn man sich bei Personen vorstellt, die einen noch nicht kennen, z.B. im Freundeskreis, ist es ein Unterschied, seine Position in einem Unternehmen zu nennen oder zu sagen, dass man gerade nicht lohnarbeitet. Für ersteres wird man respektiert, für zweites oft heimlich beneidet, aber offen nur wenig geachtet. Wenn einem im Job herausfordernde Projekte gelingen, erfährt man Bestätigung und Genugtuung; beides Empfindungen, die Care-Arbeit (vor allem, wenn man wie ich keine Kinder hat) selten bis nie auslöst.

Zu guter Letzt das "Busy sein" oder wie eine meiner Lieblingspodcasterinnen es nennt, der "Leistungsfetischismus": in der heutigen Zeit gerne verbunden mit Karriere, Erfolg und Produktivität ist es in Wirklichkeit viel öfter Rumgehetze, Stress, schlechte Organisation und Ineffizienz. Sich das aber vor Augen zu führen, wenn man plötzlich alles andere als "busy" ist, ist schmerzhaft, denn es konfrontiert einen zunächst mit Stigmata von Faulheit, nicht vorhandenem Leistungswillen und fehlendem Ehrgeiz. Wer plötzlich nichts oder zumindest nicht überfordernd viel zu tun hat, kann nur faul oder chancenlos sein - dabei ist "Menschen danach zu hierarchisieren, wie viel oder wenig sie beruflich leisten" eigentlich auch nur mies und "ein wesentlicher Antrieb des Kapitalismus".

Anmerkung: ich habe mich an den Zustand, nicht busy zu sein, gewöhnt. 

 

 

Struktur fällt weg & Produktivität bricht ein

Man denkt vorher, ich habe vorher gedacht, dass ich mit meinen akut 40-50 Wochenstunden mehr zu meiner freien Verfügung, in kürzester Zeit 1.000 Dinge schaffen werde, die ich mir vorher vorgenommen hatte. Einem sagt dabei keiner, dass die eigene Produktivität massiv einbricht (dazu gibt es übrigens Studien), man kalkuliert nicht ein, dass man unter dem Zeitdruck eines Vollzeit-Jobs mehr in kürzere Zeit quetschen konnte und musste, man ist enttäuscht über die eigene Unfähigkeit, an manchen Tagen nicht mehr zu vollbringen, als zu duschen und 2 Staffeln Serie zu schauen.

Ich selbst bin in ein Tal gefallen, etwa nach 3 Monaten, in dem ich deprimiert, wütend und hoffnungslos war, weil ich mich zu ernüchternd wenigen meiner vorherigen Pläne aufraffen und im Gegenzug Zeit zum Entspannen auch nicht genießen konnte. Lose-lose sozusagen.

Die Wege aus diesem Tal hießen bei mir vor allem: sich zwingen, sich aufzuraffen (!), sich erlauben, unproduktive Zeit bewusst zu genießen, den eigenen Kritiker in sich zum Schweigen zu bringen.

Nun lernt man in dieser Zeit, in der fast jeder Tag im Kalender gleich leer zu sein scheint, sich neue Strukturen zu schaffen, neue Dinge einzuplanen, sich selbst zu motivieren und man lernt schlussendlich auch, ob einen To Do Listen befrieden oder Produktivitäts-Apps oder was auch immer. 

Meine Erkenntnisse: wenn man sich alles aufschreibt, was man macht, wird einem erst mal klar, wie viel man eigentlich macht. Es gelingt einem, sich immer neue Projekte zu suchen, die das eigene Leben mehr ordnen oder den eigenen Horizont erweitern. Man bringt Tage auch ohne Lohnarbeit erstaunlich gut rum – auch wenn ich gestehen muss, dass sie nach 9 Monaten recht repetitiv werden. 

 

 

Wertschätzen

"Vieles lernt man erst zu schätzen, wenn man es nicht mehr hat."

Zu dieser Sorte Mensch gehöre ich nicht, ich wehre mich dagegen ihr zugerechnet zu werden. Ich weiß und wusste immer, welche wertvollen Menschen um mich waren, welche schönen Dinge ich besaß oder in was für beneidenswerten Situationen ich war. Ich musste sie nie erst verlieren, um sie zu schätzen zu wissen.

Und jetzt? Die Auszeit hat mir unheimliche Freiheiten eingeräumt, man könnte sie auch als Luxus bezeichnen:

  • der Luxus, dass ich jeden Tag um 9 Uhr oder später aufstehen konnte,
  • der Luxus, dass "niemand (= kein/e Chef/in) etwas von einem will"
  • der Luxus, dass meine Inbox wirklich am Ende jedes Tags auf 0 ist,
  • der Luxus, dass ich flexibel für Treffen mit Freund*innen (und nicht selbst der Flaschenhals) war,
  • der Luxus, tagsüber unter der Woche alles Mögliche erledigen zu können, was man sonst ins Wochenende quetschen muss,
  • der Luxus, freie Gehirnkapazität für politische und gesellschaftliche Themen zu haben und auch noch die Zeit dazu, entsprechenden Content zu konsumieren (d.h. Artikel lesen, recherchieren, Talkshows schauen, Podcasts hören)
  • der (Corona bedingte) Luxus, viel Zeit zuhause mit meinem Freund und unserem Hund verbringen zu können.

 

Die Aussicht, wieder lohnzuarbeiten

Bei der Auszeit konnte ich selbst entscheiden, ob ich mir die vollen 12 Monate nehme oder schon früher wieder einsteige. Für mich war ein wesentliches Entscheidungskriterium der Zeitpunkt, an dem ich wieder Lust, Motivation, richtiggehenden Hunger auf Meetings, Emails und eine intellektuelle Herausforderung hätte.

Ich konnte diese 9 Monate unbeschwert und nicht eingeengt erleben, nicht lohnzuarbeiten schafft man in so einer vorübergehenden Phase gut. Wenn das hingegen die Aussicht auf mein ganzes Leben wäre, zuhause zu sein, ggf. auch mit Kindern, wäre es für mich (!) deutlich schlimmer.

Ich werde übrigens am 1. Februar 2021 wieder in einen neuen Job einsteigen – dann werde ich 10 Monate frei gehabt haben.

 

 

Fazit

Offensichtlich bedeutet der Job für einen vor allem eines: den Lebensunterhalt zu verdienen und wenn es genug ist, auch etwas für Altersvorsorge und/oder Vermögensaufbau beiseite legen zu können. Wie ich am eigenen Leib erlebt habe, bedeutet er aber noch mehr: sich den Vorstellungen und Anforderungen anderer unterzuordnen, gesellschaftliche Erwartungen zu erfüllen, sich signifikante Anteile des Tages mit Job-Fragen zu beschäftigen, weniger Flexibilität zu haben, sich über ihn zu identifizieren, Struktur und Produktivität zu haben, Bestätigung zu bekommen. Also deutlich mehr als ich noch vor einem Dreiviertel Jahr geglaubt hätte.

Ein schönes Learning eigentlich.

 

 

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